Der patagonische Hase

Erinnerungen von (und an) Claude Lanzmann

Heute wird der Dokumentarfilmer Claude Lanzmann („Shoah“) 92. Kein runder Geburtstag. Aber was ist an Lanzmann schon rund? Oder stromlinienförmig? Man kann sich dem großen Regisseur über seine Filme nähern – oder über seine Lebenserinnerungen, die er 2009 in Frankreich veröffentlichte und die ein Jahr später in deutscher Übersetzung erschienen. Eine (nach wie vor) lohnende Lektüre.

Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Erinnerungen. Deutsch von Barbara Heber-Schärer, Erich Wolfgang Skwara, Claudia Steinitz. Rowohlt Verlag, 688 S., € 24,95 (als Paperback € 12,99)

Nein, einen schwierigeren Einstieg hätte Claude Lanzmann den Lesern seiner Lebenserinnerungen kaum bereiten können. Das erste Kapitel seines Werks durchkreuzt alle Erwartungen, die man gemeinhin an Memoirenliteratur hat. Es erspart einem nichts. Das einzige Thema dieser ersten Seiten ist der gewaltsam herbeigeführte Tod von Menschen. Wir sehen einen schier endlosen Zug der Enthaupteten, Gehängten, Erschossenen, mit der Garrotte Erwürgten, der zu Tode Gefolterten, wir sehen ihre Ankläger und Henker, wir sehen die Opfer, ihren Mut, ihre Angst im Angesicht des unmittelbar bevorstehenden, unabwendbaren Endes.

Nach diesem programmatischen Auftakt, ebenso brillant wie bedrückend, versichert Lanzmann seinen Lesern, dass er das Leben auf geradezu verrückte, unsinnige Weise liebe. Aber diese Liebe zum Leben sei ihm stets durch die Angst vergällt worden, er könne sich im entscheidenden Moment feige verhalten, dann nämlich, wenn er selbst einmal in eine der von ihm eingangs beschriebenen Extremsituationen geraten sollte. Grund zu dieser Angst hatte der französische Jude Claude Lanzmann oft genug. Schon als junger Mann, damals noch Kommunist, hat er sich der Résistance gegen die Nazi-Okkupation angeschlossen.

„Ich habe während des geheimen Kampfes […] zwar viele objektiv gefährliche Aktionen ausgeführt, doch ich werfe mir vor, dies nicht mit vollem Bewusstsein getan zu haben, weil ich nicht mit dem im Fall einer Verhaftung höchsten Preis – dem Tod – rechnete. Hätte ich überhaupt noch handeln können, wenn ich mir zuvor die letzten Konsequenzen klargemacht hätte? Selbst wenn man behauptet, auch Ahnungslosigkeit sei eine Form des Muts, ist ein Handeln ohne die innere Bereitschaft zum höchsten Opfer doch nur dilettantisch. Das ist es, was ich mir bis heute unaufhörlich sage. Die Frage nach Mut und Feigheit ist der rote Faden, der dieses Buch und mein Leben durchzieht.“

Claude Lanzmann hat das 20. Jahrhundert, das „Zeitalter der Extreme“, erlebt und überlebt. Viele, tief ernste Passagen seines Buches legen davon Zeugnis ab, zumal die Schlusskapitel, die er der Arbeit an seinem großen filmischen Meisterwerk „Shoah“ widmet. An anderer Stelle berichtet er von den politischen Kämpfen der Nachkriegsjahre, etwa um die Unabhängigkeit Algeriens, von seiner Parteinahme für den Staat Israel, von seiner vielfältigen publizistischen Arbeit, an erster Stelle für die Zeitschrift Les temps modernes, von seinen philosophischen Reflexionen, für die sein Freund Jean-Paul Sartre entscheidende Bedeutung erlangte.

Doch trotz allen Ernstes bricht sich immer wieder die unbändige Lebensfreude und Lebenslust dieses Mannes Bahn. Dann lässt er das pulsierende, vibrierende Leben im Paris der 50er und 60er Jahre wiederauferstehen oder gibt sich als grandioser Selbstdarsteller, der sich als Haudegen, Tausendsassa, Abenteurer gefällt: sei es auf dem Rücken von Pferden, sei es auf Skiern, sei es im Segelflugzeug oder unter einem Paragleiter mit Doppelsteuerung, sei es auf einem Hochseeschiff im Orkan, an Bord einer Phantom, einer F-16 oder eines israelischen Kampfpanzers.

Solche hemmungslosen Selbststilisierungen mögen zuweilen irritieren, doch sie werden mehr als wettgemacht durch manch selbstkritische Einlassung, vor allem aber durch die liebevollen Portraits, die Lanzmann von anderen Menschen zeichnet. Über allem steht die berührende Geschichte seiner Schwester Évelyne, einer schönen, talentierten Schauspielerin, die sich im November 1966 das Leben genommen hat. Lanzmann bringt einem diese Frau auf nur wenigen Seiten so nahe, dass man seinen ungeheuren Schmerz angesichts des Verlustes nachempfindet.

„Der Suizid meiner Schwester hatte mich zerstört, ich dachte, dass ich künftighin und für immer unter dem Schatten ihres Todes leben müsste. Das wäre der einzige Ausdruck von Treue. Eine Freundin von Sartre […], der ich mich damals […] anvertraute und die selbst große Schicksalsschläge hatte erleiden müssen, hatte mir geantwortet: ‚Sie irren sich. Sie werden vergessen, das Leben siegt immer.’ Sie hatte recht. Und unrecht. Ich habe nichts vergessen, und ich habe gelebt. Aber alle November gelten mir nichts, das ist der Sterbemonat Évelynes, und es ist auch der Monat meiner Geburt.“

Was wäre dieses Buch ohne die Frauen und Lanzmanns Liebe zu ihnen! Bei diesem Thema lässt der Autor seiner Fabulierkunst endgültig freien Lauf, ohne dass seine Erzählungen je indiskret oder gar kompromittierend ausfielen.

Da ist zum Beispiel die wunderbare, turbulente, leidenschaftliche Beziehung zu einer Krankenschwester im kommunistischen Nordkorea der 50er Jahre, eine verrückte Liebe, die angesichts des allgegenwärtigen repressiven Regimes am Ende keine Chance auf Erfüllung hatte. Und natürlich die mehrjährige Liaison mit Simone de Beauvoir, die zu einer ebenso komplizierten wie interessanten Dreiecksbeziehung mit Sartre führte und viel über das Lebensgefühl und die Experimentierfreude im Paris jener Jahre verrät.

Er habe seine Memoiren nicht eigenhändig geschrieben, sondern diktiert, sagt Claude Lanzmann. Auch wenn man unterstellen darf, dass am Ergebnis dieses Diktats noch ausgiebig gefeilt wurde, ist der lockere, elegante Erzählton erhalten geblieben, auch in der vorzüglichen deutschen Übersetzung. Mitunter glaubt man, man höre den Autor sprechen, einen Autor, der sich nur wenig um die Chronologie der Ereignisse schert, der vom Thema abschweift, wann immer es ihm gefällt, Sprünge macht, Haken schlägt, und doch immer wieder instinktsicher auf den Weg zurückfindet.

Ein wenig fühlt man sich an einen Hasen erinnert. Vielleicht ist es ja jener Hase, den Lanzmann einmal in Patagonien in der Dämmerung im Lichtkegel seiner Autoscheinwerfer gesehen hat, wie er pfeilschnell, mit langen Sätzen die Straße überquerte. Hasen, schreibt Claude Lanzmann, seien edle Tiere, er habe Achtung vor ihnen. Wenn es eine Seelenwanderung gäbe und er wählen könnte, würde er, ohne zu zögern, am liebsten als Hase wiedergeboren werden.

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