Julian Assange schwebt in Lebensgefahr
„Julian hat einen Punkt erreicht, an dem er sterben könnte.“ Worte eines besorgten und verzweifelten Vaters.
John Shipton ist der Vater von WikiLeaks-Gründer Julian Assange. Er hatte seinen Sohn Anfang Oktober im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh besucht, wo er seit sechs Monaten festgehalten wird. Bevor er den britischen Behörden ausgeliefert wurde, hatte Assange seit 2012 entbehrungsreiche und seine Gesundheit strapazierende Jahre in der ecuadorianischen Botschaft in London verbracht.
Als ich im April 2019 mein Buch „Der Krieg vor dem Krieg“ veröffentlichte, befand sich Assange noch in relativer Sicherheit, aber es war bereits deutlich erkennbar, dass ihm nichts erspart bleiben würde. Damals schrieb ich:
„Würde Ecuador, wofür zurzeit manches spricht, Assange in absehbarer Zeit seinen Feinden in London beziehungsweise Washington ausliefern, hätte das für den großen publizistischen Aufklärer vermutlich fatale Folgen. Er würde einer politischen Justiz überantwortet, von der er keine Gerechtigkeit zu erwarten hat, sondern nur Rache. Es steht einiges auf dem Spiel, nicht nur das Leben und die Freiheit des Menschen und Kollegen Julian Assange, sondern auch die Zukunft eines unabhängigen Journalismus. Assange hat wahrheitsgemäße Informationen veröffentlicht, die ihm von Dritten zugespielt wurden. Sollte man ihm dies zum Vorwurf machen, sollte ihm dies gar zum Verhängnis werden oder sollte es gelingen, ihn als Agenten einer feindlichen Macht zu diffamieren und zu verurteilen, wäre ein Präzedenzfall geschaffen und der Kriminalisierung von herrschaftskritischem Journalismus die Bahn geebnet.“
Inzwischen hat das Schicksal Assanges die schlimmste mögliche Wendung genommen. Julian Assange ist zum politischen Gefangenen geworden. Vergangenen Montag fand vor dem Westminster Magistrates Court eine Verhandlung statt, in der Assanges Rechtsvertreter eine Einstellung des Auslieferungsverfahrens verlangten – ohne Erfolg. Im Februar 2020 wird ein Londoner Gericht eine endgültige Entscheidung treffen, und man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, wie sie ausfallen wird.
Die gerichtliche Anhörung zeigte deutlich, in welch alarmierender Verfassung sich Julian Assange befindet. Er musste einige Zeit überlegen, bis er seinen Namen und sein Geburtsdatum nennen konnte. Die Journalistin Laura Tiernan berichtet über das Verfahren:
„Als sich die Anhörung dem Ende zuneigte, forderte [die Richterin] Baraitser Assange zum Aufstehen auf und fragte ihn: ‚Verstehen Sie, was heute hier passiert ist?‘
Assange, der monatelang in Einzelhaft saß und vom täglichen Zugang zu Informationen von außen abgeschnitten war, antwortete nach einer langen Pause: ‚Ob ich es verstehe? Nicht wirklich.‘
Baraitser fragte: ‚Möchten Sie sonst noch irgendetwas sagen?‘
Assange antwortete mit leiser und teilweise unverständlicher Stimme: ‚Ich verstehe nicht, wie das gerecht sein soll. Diese Supermacht hatte zehn Jahre Zeit, um sich auf diesen Fall vorzubereiten. Ich kann mich an nichts erinnern. Ich habe keinen Zugang zu meinen Dokumenten. Es ist schwer, mit so begrenzten Mitteln etwas gegen eine Supermacht zu unternehmen, die [unverständlich] … Sie haben einen unfairen Vorteil, was die Dokumente angeht. Sie [kennen] die Einzelheiten meines Lebens mit meinem Psychologen. Sie stehlen die DNA meiner Kinder. Was hier passiert, ist nicht gerecht.‘
Im weiteren Verlauf seiner Rede musste er gegen die Tränen ankämpfen, hielt sich beide Hände an den Kopf und sagte: ‚Ich kann nicht richtig denken.‘ Darauf antwortete Baraitser: ‚Ihre Haftbedingungen sind nicht Thema dieser Verhandlung.‘ Nach diesen letzten Worten wurde Assange von der Anklagebank gebracht, aus dem Blickfeld seiner Anhänger im Zuschauerbereich.“
Craig Murray, früherer britischer Botschafter in Usbekistan, Menschenrechtsaktivist und enger Freund und Mitarbeiter Assanges, war ebenfalls Augen- und Ohrenzeuge des Verfahrens. Er hat seine Eindrücke in einem erschütternden Bericht geschildert. Murray räumt ein, dass er der Einschätzung des UN-Sonderberichterstatters für Folter, Nils Melzer, zunächst mit einer gewissen Skepsis begegnet sei. Melzer hatte gesagt, Assanges Haftbedingungen erfüllten den Tatbestand der Folter.
„Until yesterday I had always been quietly skeptical of those who claimed that Julian’s treatment amounted to torture […] and skeptical of those who suggested he may be subject to debilitating drug treatments. But having attended the trials in Uzbekistan of several victims of extreme torture, and having worked with survivors from Sierra Leone and elsewhere, I can tell you that yesterday changed my mind entirely and Julian exhibited exactly the symptoms of a torture victim brought blinking into the light, particularly in terms of disorientation, confusion, and the real struggle to assert free will through the fog of learned helplessness.“
Noch skeptischer, schreibt Murray, sei er gegenüber denjenigen gewesen, die befürchten, dass Julian Assange das Ende seines Auslieferungsverfahrens nicht mehr erleben werde. Nun jedoch verfolge ihn dieser Gedanke geradezu. Jeder, der dem Verfahren am Montag beigewohnt habe, habe sehen können, dass hier einer der größten Journalisten und bedeutendsten Dissidenten unserer Zeit vom Staat zu Tode gefoltert werde – vor unser aller Augen.
„To see my friend, the most articulate man, the fastest thinker, I have ever known, reduced to that shambling and incoherent wreck, was unbearable.“
In meinem oben erwähnten Buch hatte ich geschrieben, dass nur eine massive internationale Solidaritätsbewegung Assange retten könne. Ich bestreite nicht, dass es vielfältige Solidaritätsbekundungen gibt, auch eine gewisse Bewegung. Doch von „massiv“ kann leider immer noch keine Rede sein. Wie lange soll es noch dauern, bis wir endlich aufwachen? Bis es zu spät ist?
Die Propaganda tut ihr Übriges!
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