Es geht ums Prinzip

Eine Kontroverse bei den NachDenkSeiten

Woran wollen wir uns orientieren? An der Parole „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ oder an dem schönen Rosa-Luxemburg-Satz „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“? Und wie halten wir es mit nationalistischen, rechtspopulistischen Strömungen? Wollen wir sie stigmatisieren, ausgrenzen und „bekämpfen“? Oder vielleicht doch das Gespräch mit ihnen suchen? Und wenn ja, wie könnte das konkret aussehen?

Gestern und heute sorgten die NachDenkSeiten (NDS) für eine Kontroverse, aus der man vielleicht das eine oder andere lernen könnte.

In aller Kürze: Am 8. November 2017 veröffentlichte Paul Schreyer auf den NDS einen Artikel unter dem Titel Kontaktverlust oder: Wenn unbequeme Bücher „verschwinden“. Aufgrund diverser Leserreaktionen haben die NDS den Beitrag wenige Stunden später gelöscht. Heute haben sie ihn – vermutlich infolge abermaliger, aber andersartiger Leserreaktionen – wieder zugänglich gemacht, ergänzt um eine Erklärung der Redaktion – hier.

Der betroffene Autor hatte den in Rede stehenden Artikel gestern auf seinen Blog gestellt und die Maßnahme der NDS kritisiert. Auch auf die heutige Wiederveröffentlichung sowie die beigefügte redaktionelle Erklärung der NDS hat Schreyer reagiert – all das ist hier nachzulesen.

Ich nehme an, dass die meisten Leserinnen und Leser die Kontroverse an den oben genannten Originalschauplätzen verfolgt haben. Denjenigen, die das nicht getan haben, will ich kurz erläutern, worum es geht.

Paul Schreyer beginnt seinen Artikel mit einer interessanten Beobachtung:

„In der Filiale einer großen Buchhandelskette in meiner Heimatstadt ist seit einigen Wochen ein seltsames Schauspiel zu beobachten. Die Bühne ist das gut ausgeleuchtete Regal im Eingangsbereich, in dem die aktuellen Spiegel-Bestseller präsentiert werden. […] Seit allerdings das Sachbuch „Kontrollverlust“ des Autors Thorsten Schulte sich in diesem Herbst fest in der Bestsellerliste etabliert hat, weigert sich die hiesige Buchhandlung hartnäckig, den Titel in das zugehörige Regal zu stellen.“

Was soll man davon halten, fragt Paul Schreyer: Handelt es sich hier nur um einen „schlechten Scherz“, eine „Farce“ – oder um einen „Zensurversuch“? Um dann hinzuzufügen: „Noch drastischer war im Sommer diesen Jahres ja der SPIEGEL vorgegangen, der ein unerwünschtes Buch gleich komplett aus seiner eigenen offiziellen Bestsellerliste gelöscht hatte.“ Es handelt sich um Rolf Peter Sieferles Finis Germania.

Von Schreyer auf die Merkwürdigkeit angesprochen, erklärte die Buchhändlerin, „dass das fragliche Werk in einem umstrittenen Verlag erschienen sei“. Gemeint war der Kopp Verlag. „Solche Dinge wolle man nicht fördern, daher die Entfernung aus dem Regal.“

Schreyers Gegenposition: „[…] ein Bestseller ist nun mal ein Bestseller. Und wer ein entsprechendes Regal in seinem Laden aufstellt (wozu ja keine Buchhandelskette gezwungen wird), der sollte den Tatsachen (und seinen Kunden) vielleicht doch besser ehrlich ins Auge sehen. Dieser Gedankengang war dem Personal allerdings nicht zu vermitteln.“

Es ist kein Geheimnis, dass der Journalist Paul Schreyer politisch links zu verorten ist, der Kopp Verlag und sein Autor Thorsten Schulte hingegen rechts. Trotzdem bricht Schreyer eine Lanze für Verlag und Autor. Das fand ich gut – das finde ich gut. (Und das habe ich Schreyer auch spontan per Email kundgetan.)

Und ich gestehe: Ich war ein wenig stolz auf die NDS. Sie haben verstanden, so schien mir, dass es in Sachen Meinungs-, Diskurs- und Publikationsfreiheit um ein hehres, fundamentales Prinzip geht, bei dem es keinerlei faule Kompromisse geben darf. Gerade linke Demokraten – und als solche verstehen sich die Macher der NDS –  müssen sich mit jedem, der (aus welchen Gründen auch immer) wegen einer unliebsamen Meinung unter Druck gerät, solidarisch zeigen. Sie müssen es auch (und gerade) dann tun, wenn sie – umgekehrt – von Rechten in der Regel keine vergleichbare Solidarität zu erwarten haben.

Wie gesagt: Ich war stolz auf die NDS – und dann umso enttäuschter, als sie Paul Schreyers Artikel kurzfristig löschten. Als Begründung wurde angeführt, dass Thorsten Schulte ein AfD-Propagandist ist und sein Buch die Ziele und Werte der NachDenkSeiten konterkariert.“ Dies sei der Redaktion leider nicht bewusst gewesen; sie bedaure ihren „Fehler“.

Im Unterschied zur Redaktion der NDS war mir (und vielen anderen) bekannt, dass Schulte die AfD unterstützt. Doch ich habe – horribile dictu – nichts dabei gefunden. Es ist mir, offen gesagt, völlig egal, ob Schulte mit der AfD sympathisiert, ob sein Herz (wie einst) für die CDU schlägt oder ob er (wie Sarrazin) der SPD angehört. Für die Frage, die hier verhandelt wird, spielt das nicht die geringste Rolle.

Anders gesagt: Wer glaubt, in Sachen Meinungs-, Diskurs- oder Publikationsfreiheit mit zweierlei Maß messen zu dürfen, gerät auf eine abschüssige Bahn.

Die heutige Entscheidung der NDS, Schreyers Artikel wieder auf die Seite zu stellen, wurde mit einem selbstkritischen Kommentar der Redaktion versehen. Diese Korrektur hat mich mit den NDS versöhnt. Ich habe sie nicht als opportunistischen „Rückzieher“ empfunden. In dieser Entscheidung zeigt sich durchaus Format.

Aber es bleibt ein bitterer Nachgeschmack. So werfen die NDS Paul Schreyer auch nach der Korrektur weiterhin vor, dass er es in seinem Beitrag versäumt habe, auf die AfD-Sympathien Thorsten Schultes aufmerksam gemacht zu haben. Das ist in der Tat ein Versäumnis gewesen, und Schreyer hat diesen Einwand auch akzeptiert. Problematisch wird es jedoch, wenn die NDS heute schreiben:

„Mit ausreichender Information [gemeint ist die Information über die AfD-Beziehungen Schultes, U.T.] durch den Autor des NDS-Artikels wäre das Verhalten der Buchhändler/innen vermutlich in einem etwas anderen Licht erschienen.“

Tatsächlich? Diese Formulierung verrät meines Erachtens, dass der entscheidende Punkt immer noch nicht so ganz begriffen wurde. Es geht, um es zu wiederholen, nicht um die AfD, sondern um Meinungs-, Diskurs- und Publikationsfreiheit. Es geht – zumindest in diesem Fall – nicht um die Bekämpfung eines politischen Gegners, sondern um die Aufrechterhaltung eines demokratischen Prinzips.

Womit wir bei der eingangs gestellten Frage wären, ob und wie wir uns mit nationalistischen oder rechtspopulistischen Kräften auseinandersetzen sollten. Auch zu diesem Thema sagt Paul Schreyer im Schlussteil seines Textes manch Bedenkenswertes, das ich voll unterstütze und zur Lektüre empfehle.

Aus meiner Sicht verhält es sich so: Zum einen ist die Diskursbreite in unserer Gesellschaft, also das Spektrum dessen, über das rational diskutiert werden kann, viel zu eng. Zum anderen ist die Art und Weise, wie politische Auseinandersetzungen geführt werden, durch eine fortschreitende Verrohung gekennzeichnet.

Woraus sich folgende Forderungen ergeben: Das Diskursspektrum müsste dringend und drastisch erweitert werden. Und wir müssten eine „Kultur der Formen“ entwickeln oder wiederentdecken, also eine Diskurskultur etablieren, die in der Sache so hart wie möglich oder nötig sein darf, im Ton oder im Stil aber stets „die Form wahrt“, also dem politischen Gegner „auf Augenhöhe“ begegnet, ihn nicht herabsetzt, stigmatisiert oder sonst wie ausgrenzt. Eine Kultur, in der das bessere Argument eine Chance hat.

Vielleicht eine Utopie. Aber zumindest als „regulative Idee“ sollte mein Vorschlag taugen. Ein Blick in die USA könnte hier lehrreich sein – als abschreckendes Beispiel und als Vorbild. Dort ist das Diskursspektrum noch erheblich enger als bei uns, zugleich hat die Verrohung der politischen Sitten beängstigende Züge angenommen.

Doch es gibt auch kluge Amerikaner. In dem noch jungen, aber stets lesenswerten US-Magazin Current Affairs hat sich zum Beispiel Briahna Joy Gray kürzlich der Frage gewidmet, ob es sinnvoll sei, den Dialog mit dem harten Kern der Trump-Klientel oder den „white supremacists“ zu suchen. Sie bejaht diese Frage und entwickelt eine Vielzahl höchst interessanter und bedenkenswerter Ideen, wie dies zu bewerkstelligen wäre. Ein großartiger Text, der – auf Deutschland übertragen – uns auch beim Umgang mit Kräften wie der AfD von großem Nutzen sein könnte.