„Umgekehrter Totalitarismus“

Sheldon Wolins provozierendes Alterswerk

„Beschreibt ‚Demokratie‘ wirklich unsere Politik und unser politisches System, oder handelt es sich um eine zynische Geste, mit der eine zutiefst manipulative Politik getarnt werden soll?“ So lautet die Kernfrage in Sheldon Wolins großer, nun auch ins Deutsche übersetzten Analyse des politisch-ökonomischen Systems der USA. Aus seiner Antwort machte der 2015 verstorbene Princeton-Professor keinen Hehl. Wolin, neben Hannah Arendt der wohl bedeutendste Politiktheoretiker der vergangenen Jahrzehnte, sprach seinem Land die demokratische Qualität ab. Er sah in den USA ein neuartiges politisches und gesellschaftliches System heraufziehen: den „umgekehrten Totalitarismus“.

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Jacques Elluls „Propaganda“

Entdeckung eines Klassikers

Im September 2021 erschien im Frankfurter Westend Verlag die deutsche Übersetzung von „Propagandes“, einem der Hauptwerke des französischen Soziologen, Historikers und Theologen Jacques Ellul (1912-1994). Ellul hatte dieses Buch 1962 publiziert. Schon drei Jahre später kam in den USA eine englische Übersetzung heraus. Nun, nach über einem halben Jahrhundert, liegt endlich eine deutsche Fassung vor. Sie bietet die Chance, auch hierzulande ein längst zum Klassiker avanciertes Werk zu entdecken – sowie seinen Autor, der zu den interessantesten und wegweisenden Denkern des 20. Jahrhunderts zählt.

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Hitler-Bayreuth? Wieland Wagner im Zwielicht

Seit einigen Tagen laufen die Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele. Eine Reihe Corona-bedingter Einschränkungen dürfte den Kunstgenuss trüben, aber immerhin: anders als im vergangenen Jahr kann das Festival 2021 wieder steigen. Zudem steht diesmal ein Jubiläum an, denn 1951, also vor 70 Jahren, ging „Neubayreuth“ an den Start. Die Festspiele im BRD-Kontext sollten die zwölf braunen Jahre unter der Ägide der Hitler-Verehrerin Winifred Wagner vergessen machen. Dieser künstlerische Aufbruch ist aufs engste mit Wieland Wagner verbunden, einem Enkel des Komponisten. Er leitete die Nachkriegsfestspiele (zusammen mit Bruder Wolfgang) bis zu seinem frühen Tod 1966. Nach wie vor genießt Wieland Wagner vielerorts einen legendären Ruf. Doch war dieser Mann wirklich die untadelige Lichtgestalt, als die er lange Zeit erschien?

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Wächter des Imperiums

In der WDR 3-Literatursendung „Gutenbergs Welt“ vom 20. Februar 2021 sprach ich mit Moderator Walter van Rossum über Bernd Greiners neue Kissinger-Biografie (erschienen bei C.H. Beck zum Preis von € 28). Hier der Beitrag zum Nachhören.

Weltuntergänge

In der WDR 3-Literatursendung Gutenbergs Welt vom 19. September 2020 sprach ich mit Walter van Rossum über Nick Bostroms Buch „Die verwundbare Welt – Eine Hypothese“ (Suhrkamp Verlag). In der Sendung (hier komplett als Podcast) gab es zudem ein Gespräch mit Paul Schreyer über dessen Corona-Bestseller „Chronik einer angekündigten Krise“.

Gandhi – Politik und Wahrheit

Woran liegt es, dass „Mahatma“ Gandhi die Aufnahme in den Kreis der großen politischen Theoretiker des 20. Jahrhunderts bis heute versagt geblieben ist? Die Gründe sind sicher nicht allein in okzidentaler Überheblichkeit gegenüber einem „orientalistischen“ Denker zu suchen, sondern auch darin, dass Gandhi eine systematische Exposition seiner Anschauungen fast ganz vermieden hat. „Gandhi – Politik und Wahrheit“ weiterlesen

Heimaturlaub – Roman von Joachim Geil

75 Jahre Kriegsende (VI)

Dieter Thomas ist Anfang zwanzig, Leutnant, ein Soldat im Krieg, irgendwo an der Ostfront, 1944. Eine Verwundung bringt ihn ins Lazarett. Wieder genesen, hat er eine Woche Urlaub. Heimaturlaub. Wie schon so oft, fährt er dorthin, wo er ursprünglich herkommt, in die Pfalz, in den Kurort Bergzabern. Hier lebt viel Verwandtschaft, Großeltern, Tante Emmy, Onkel Gustav mit Tante Carla und den Kindern. In einem Nachbarort liegt das Grab seiner Mutter. Auch Heidi, die schöne Majorstochter, lebt in Bergzabern – ein Grund mehr für Dieter, die Pfalz zu besuchen.

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Der Fall Selpin

75 Jahre Kriegsende (V)

Im Sommer 1942 steckt der Regisseur Herbert Selpin mitten in den Dreharbeiten zu seinem bis dahin größten Projekt: einem aufwändigen Film über den Untergang des britischen Luxusliners „Titanic“. Doch den Abschluss dieser Arbeit erlebt er nicht mehr. Am 30. Juli wird der prominente Filmschaffende verhaftet und ins Polizeigefängnis am Berliner Alexanderplatz gebracht. Dort findet man ihn zwei Tage später tot in seiner Zelle. Selpin hat sich erhängt. Er ist das Opfer einer Denunziation geworden.

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Eine knappe Angelegenheit

75 Jahre Kriegsende (IV)

War der Ausgang des Zweiten Weltkriegs vorprogrammiert? War absehbar, dass er mit der Niederlage der „Achsenmächte“ und dem Sieg der „Alliierten“ enden würde? Die Geschichtswissenschaft leistet einem solchen Eindruck zuweilen ungewollt Vorschub, denn das Handwerk der Historiker ist nun einmal primär die Beschreibung und Erklärung dessen, was tatsächlich geschehen ist – weniger dagegen die Erörterung der Frage „was wäre gewesen, wenn…“. „Eine knappe Angelegenheit“ weiterlesen

Lebenslang Lebensborn

75 Jahre Kriegsende (III)

Die SS-Organisation Lebensborn ist bis heute von Legenden umrankt. Eine davon besagt, es habe sich um eine „Zuchtanstalt“ gehandelt, in der ausgesuchte weibliche und männliche Prachtexemplare der arischen Rasse zum Zweck der Kinderzeugung zusammengeführt wurden. Doch die Lebensborn-Organisatoren führten anderes im Schilde. „Lebenslang Lebensborn“ weiterlesen

Hitlers Charisma

75 Jahre Kriegsende (II)

Neue Hitler-Filme, neue Hitler-Bücher – der Strom einschlägiger Veröffentlichungen will nicht abreißen. War – und ist? – Adolf Hitler also doch ein „Faszinosum“, wie es der frühere Bundestagspräsident Jenninger einmal in einer umstrittenen Rede ausgedrückt hat? „Hitlers Charisma“ weiterlesen

Luxemburg im Zeichen des Hakenkreuzes

75 Jahre Kriegsende (I)

In kaum einem anderen europäischen Land sind die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg so gegenwärtig wie in Luxemburg. Der deutsche Einmarsch 1940 und der dann folgende Versuch, das kleine Land seiner Identität zu berauben und es dem „Großdeutschen Reich“ einzuverleiben, sind für die Luxemburger ein traumatisches Erlebnis gewesen. Nicht minder gegenwärtig ist die Erinnerung an den mutigen Widerstand vieler Luxemburger gegen die deutsche Okkupation. „Luxemburg im Zeichen des Hakenkreuzes“ weiterlesen

Als Reisen noch bildete

Die Welt des Baedeker

Reisen bildet, heißt es. Nur: Was soll man machen, wenn man sich reisend bilden möchte, aber nicht darf? Wenn man raus will, aber die Grenzen dicht sind? In trübsinnigen Zeiten wie diesen suche ich immer öfter nach Surrogaten – fahre mit dem Finger über Landkarten, träume mich mit Bildbänden in ferne Welten, schwelge in alten Reiseführern. „Als Reisen noch bildete“ weiterlesen

Wahrheitspopulismus

Auf dem Buchmarkt gibt es einen neuen Trend: Immer mehr Autoren wollen die Wahrheit retten und warnen eindringlich vor Verschwörungstheorien und -theoretikern. Der Kollege Walter van Rossum spricht in diesem Zusammenhang von „Wahrheitspopulismus“. Vor ein paar Wochen, am 20. April 2019, sprach ich mit ihm in der WDR 3-Literatursendung Gutenbergs Welt exemplarisch über das Buch von Jan Skudlarek Wahrheit und Verschwörung – Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist (erschienen bei Reclam). Hier der Beitrag zum Nachhören.

Vom Alpha-Journalisten zum Dissidenten

Erinnerungen von (und an) Günter Gaus

Vor fünfzehn Jahren, im Mai 2004, verstarb Günter Gaus, einer der bekanntesten und einflussreichsten deutschen Publizisten nach dem Zweiten Weltkrieg. Wenige Monate nach seinem Tod erschienen unter dem Titel „Widersprüche“ seine unvollendet gebliebenen Lebenserinnerungen. Ich hatte sie seinerzeit rezensiert – hier der Text zum Nachlesen. „Vom Alpha-Journalisten zum Dissidenten“ weiterlesen

Verachtete Völker (II)

R.L. Stevenson über Indianer

Im vorangegangenen Beitrag hatte ich Robert Louis Stevensons Buch Emigrant aus Leidenschaft vorgestellt und eine längere Passage aus dem Kapitel „Verachtete Völker“ zitiert, die vermutlich Anfang der 1880er Jahre verfasst wurde und den Hass weißer Europäer und Amerikaner auf chinesische Menschen beschreibt und kritisiert. In der folgenden Passage spricht Stevenson über das Schicksal der Indianer. „Verachtete Völker (II)“ weiterlesen