Als Reisen noch bildete

Die Welt des Baedeker

Reisen bildet, heißt es. Nur: Was soll man machen, wenn man sich reisend bilden möchte, aber nicht darf? Wenn man raus will, aber die Grenzen dicht sind? In trübsinnigen Zeiten wie diesen suche ich immer öfter nach Surrogaten – fahre mit dem Finger über Landkarten, träume mich mit Bildbänden in ferne Welten, schwelge in alten Reiseführern.

Und ich erfreue mich an einem schönen und klugen Buch, das die Kulturhistorikerin Susanne Müller 2012 veröffentlicht hat. Die Autorin erzählt darin viel Interessantes und Wissenswertes über einen der berühmtesten Reiseführer, den legendären „Baedeker“. Und über eine Zeit, in der man noch reisen durfte.

Sein Name hat zwar bis heute überlebt, doch das dazugehörige Produkt ist längst vom Markt verschwunden. Was da seit einigen Jahren noch als Baedeker-Reiseführer in die Buchhandlungen kommt, hat mit dem großen Vorläufer, hat mit dem Baedeker nichts mehr gemein. Das Original hatte seine große Zeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Der dazugehörige Verlag – über viele Generationen ein Familienunternehmen – war von Karl Baedeker gegründet und von dessen jüngstem Sohn Fritz zur Blüte gebracht worden.

Die außerordentliche Sorgfalt und fachliche Kompetenz, mit der sie und ihre Mitarbeiter zu Werke gingen, haben den stets rot eingebundenen Reisehandbüchern einen unvergleichlichen Ruf eingetragen. Wer den wohl berühmtesten aller Baedeker, den 1914 erschienenen Band über Indien, heute antiquarisch erwerben will, muss sehr tief in die Tasche greifen.

Wie Susanne Müller mehrfach betont, war es ein denkbar günstiger Moment, als Karl Baedeker in den 1830er Jahren in das Geschäft mit neuartigen Reisehandbüchern einstieg. Bis dahin hatten die sogenannten Apodemiken das Feld beherrscht, sehr umfangreiche und äußerst anspruchsvolle Reisebegleiter.

„Sie richteten sich an den Bildungsreisenden im alten Stil, doch das aufstrebende Bürgertum des 19. Jahrhunderts reist nicht, um sich standesgemäß zu bilden, sondern um sich in vergleichsweise kurzer Zeit ein Bild von einer Region oder Landschaft zu machen.“

Dabei kommen ihm die neuen Verkehrsmittel Eisenbahn und Dampfschiff zustatten. Später wird man diesen Typus des Schnellreisenden als „Touristen“ bezeichnen. Wenn er sich den Anweisungen und Vorschlägen des Baedeker anvertraute, durfte er gewiss sein, keine „Sehenswürdigkeit“, keinen „unvergesslichen Eindruck“ zu verpassen. Oder doch?

„… so ausführlich und übertrieben vollständig [die Beschreibungen] auch wirken, der Baedeker ist in Wirklichkeit eine Reduktionsleistung. Seine eigentliche ‚Kunst‘ besteht … nicht in erschöpfender Vollständigkeit, sondern im Weglassen – und zwar so, dass es der Reisende nicht merkt.“

Anders gesagt: Das Reisehandbuch trifft aus einem riesigen Feld von Möglichkeiten eine besondere Auswahl, es strukturiert und präformiert die Wahrnehmung und den Blick des Reisenden.

„Es schiebt sich unmerklich zwischen den Betrachter und die Welt, um einen Zugang zu ermöglichen. … Es macht Objekte sichtbar, indem es andere Objekte verdeckt oder ausblendet. … Einerseits ein störender Gegenstand, der den Blick einschränkt und fokussiert, andererseits  eine faszinierende Sehhilfe, die den Blick erst ermöglicht und organisiert.“

Aber nach welchen Gesichtspunkten wird da ausgewählt? Susanne Müller zeigt, dass der Baedeker immer auch ein Kind seiner Zeit, Ausdruck des jeweiligen Zeitgeistes gewesen ist. So hat er von der Rheinromantik des 19. Jahrhunderts profitiert und sie zugleich verstärkt. Ähnliches gilt für die Wissenschaftsgläubigkeit zu Zeiten des Kaiserreichs. Schon früh werden die modernen Verkehrsmittel zum strukturierenden Element des Baedeker: seit 1846 gliedern sich die Bände in Eisenbahnlinien und Dampfschiffrouten.

Als das Panoramabild in Mode kommt und vielerorts Rotunden errichtet werden, in denen die Besucher riesige Darstellungen von Städten oder historischen Ereignissen bestaunen können, huldigt auch der Baedeker dem Panoramablick. Später, in den 1920er Jahren, als die Welt immer unübersichtlicher wird, bedient er sich in seinem Berlin-Band einer Darstellungsweise, die an die Montagetechnik des berühmten Experimentalfilms „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ erinnert.

Auch die jeweiligen Ideologien gehen am Baedeker nicht spurlos vorbei. Der Blick auf außereuropäische Kulturen ist in der Regel eurozentrisch verengt. Während der NS-Zeit lässt sich auch der Baedeker propagandistisch vereinnahmen, wobei der Tiefpunkt zweifellos mit dem 1943 veröffentlichten Band „Generalgouvernement“ erreicht ist.

Susanne Müller erzählt weit mehr als eine konventionelle Geschichte des Baedeker. Sie beschreibt eine Welt, oder besser: eine Reise-Welt, die im Baedeker das ihr gemäße mediale Format findet – um unter seiner Anleitung eben diese Welt zu erkunden.

Susanne Müller: Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830-1945. Campus Verlag, 354 Seiten, € 29,90

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