R.L. Stevenson über Chinesen
Im Sommer 1876 hatte Robert Louis Stevenson in Frankreich die verheiratete Amerikanerin Fanny Osbourne kennenglernt. Die beiden verliebten sich. Als Fanny zwei Jahre später in die USA zurückkehrte, folgte ihr Stevenson im August 1879 mit dem Ziel, ihre Scheidung zu erwirken und sie zu seiner Frau zu machen.
In Greenock bei Glasgow schiffte er sich ein, überquerte mit dem Dampfer Devonia den Atlantik und trat nach einem kurzen Aufenthalt in New York die elftägige Eisenbahnfahrt quer durchs Land in Richtung San Francisco an.
Von dieser langen und entbehrungsreichen Reise berichtete Stevenson in seinem Text The Amateur Emigrant, der zu seinen Lebzeiten nur teilweise veröffentlicht werden konnte und auch in den Jahrzehnten danach nur in gekürzter beziehungsweise zensierter Fassung vorlag. Erst 1966 erschien eine vollständige englische Ausgabe, die deutsche Übersetzung von Axel Monte unter dem Titel Emigrant aus Leidenschaft sogar erst 2005 (bei Manesse).
In diesem Text zeigt sich Stevenson von einer atypischen Seite. Bis dahin war er vielen als der spätromantisch gestimmte Antipode des französischen Naturalisten Émile Zola erschienen. Nunmehr wirkt er fast wie dessen Parteigänger. Im deutschen Untertitel firmiert Emigrant aus Leidenschaft als „literarischer Reisebericht“. Wiese das Werk nicht eine so hohe künstlerische Qualität auf, könnte man es auch als Sozialreportage oder mitfühlenden Journalismus klassifizieren.
Jedenfalls überschreitet Stevenson mit seinem Text Grenzen. Denn der Autor entstammt der schottischen Bourgeoisie. Und anders als viele seiner Mitreisenden ist er nicht von materieller Not getrieben, sondern von seiner Leidenschaft für eine Frau. Er hätte einen Platz in der Kajüte, unter den Bessergestellten, haben können, doch er mischt sich unter das bunte Volk der Zwischendecks. Er solidarisiert sich mit diesen Menschen. Die arbeitende Bevölkerung Großbritanniens, so stellt er schon bald zu Beginn seines Buches fest, habe eine lange und vernichtende Reihe von Niederlagen erlitten. Er, Stevenson, habe sich dieses Leid nie richtig klargemacht und keine konkrete Vorstellung davon entwickelt. Erst jetzt, da er sich selbst unter den Geschlagenen befindet, beginnt er zu begreifen, wie hart die Schlacht gewesen ist.
„Wir waren eine Gesellschaft der Gescheiterten: der Trunksucht Verfallene, Unfähige, Schwache, Verlorene; alle, die nicht in der Lage gewesen waren, sich gegen die widrigen Umstände in einem Land durchzusetzen, flohen jetzt elendiglich in ein anderes; und auch wenn ein oder zwei in Zukunft Erfolg haben mochten, hatten bereits alle einmal versagt. Wir waren eine Schiffsladung voll Versager, die gebrochenen Menschen Englands. Doch darf man nicht annehmen, daß die Leute bedrückt wirkten. Die Szenerie war im Gegenteil sehr heiter. An Bord wurde nicht eine Träne vergossen. Alle blickten hoffnungsvoll in die Zukunft und legten eine Neigung zu unbekümmerter Fröhlichkeit an den Tag.“
In diesem und in einem folgenden Beitrag will ich zwei eindrückliche und – leicht erkennbar – aktuelle Bezüge aufweisende Passagen aus Stevensons Buch präsentieren, die unter der Überschrift „Verachtete Völker“ stehen. Da sind zunächst die Chinesen. Stevenson hat die Schiffsreise und den Aufenthalt in New York überstanden, ist mit dem Zug unterwegs an die Westküste. In einem der Eisenbahnwagen befinden sich chinesische Auswanderer, die das Opfer von Hass und Diskriminierung werden. Hier der leicht gekürzte Text (der besseren Lesbarkeit wegen habe ich an einigen Stellen Absätze eingefügt, die sich im Original nicht finden):
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„Von allen dummen Vorurteilen seitens meiner weißen Gefährten war die Abneigung gegenüber Passagieren aus dem Wagen der Chinesen das dümmste und schlimmste. Sie schienen sie nie angeschaut, ihnen nie zugehört und noch nie über sie nachgedacht zu haben, sondern sie a priori zu hassen. Die Mongolen waren auf dem grausamen und heimtückischen Schlachtfeld des Geldes ihre Feinde. Sie arbeiteten in Dutzenden von Gewerben besser und billiger, und deshalb war den Weißen keine Verleumdung zu dumm, als daß sie sie nicht wiederholt und sogar geglaubt hätten. Sie bezeichneten die Chinesen als abscheuliches Ungeziefer und täuschten ein Würgen in der Kehle vor, wenn sie sie sahen. […]
Außerdem erklärten meine Auswanderer, daß die Chinesen schmutzig seien. Ich kann nicht behaupten, daß sie sauber waren, denn das war auf dieser Fahrt unmöglich, aber ihre Bemühungen um Sauberkeit beschämten uns alle. Wir suhlten uns in unserer Schändlichkeit, benetzten unsere Gesichter und Hände jeden Tag eine halbe Minute auf der Plattform mit Wasser und genierten uns nicht. Die Chinesen hingegen ließen sich keine Gelegenheit zur Körperpflege entgehen, man konnte sehen, wie sie sich die Füße wuschen – eine Tat, von der man bei uns nicht einmal zu träumen wagte –, und sie gingen sogar so weit, ihren ganzen Körper zu waschen, wenn die Schicklichkeit dies zuließ. […] Diese verdreckten und übelriechenden Weißen gaben sich der merkwürdigen Illusion hin, daß es der Wagen der Chinesen sei – und nur er allein –, der stank. […].
Diese Vorurteile sind typisch für den ganzen Westen Amerikas. Man hält die Chinesen für dumm, weil sie des Englischen nur unzulänglich mächtig sind. Man hält sie für falsch, weil ihre Geschicklichkeit und Genügsamkeit es ihnen ermöglichen, die faulen und anspruchsvollen Weißen zu unterbieten. Es hieß, sie seien Diebe; ich bin mir sicher, daß sie darauf kein Monopol haben. Man nannte sie grausam; die Angelsachsen und die fröhlichen Iren sollten erst einmal in den Spiegel schauen, bevor sie solch eine Anschuldigung erheben. […]
Vor einer Weile waren es noch die Iren, jetzt sind es die Chinesen, die gehen sollen. Dieser Ruf wird überall laut. Es scheint, daß Länder sich der Einwanderung nicht weniger erwehren als einer Invasion, und beides mit einem Kampf bis aufs Messer; der Widerstand gegen beides wird als legitime Verteidigung angesehen. Es sieht aus, als bereuten wir die liberale Tradition der Republik, die sich selbst so dargestellt hat, als würde sie alle Unglücklichen mit offenen Armen willkommen heißen. Als einem Menschen, der überzeugt ist, daß er die Freiheit liebt, verzeiht man mir sicher eine gewisse Bitterkeit, wenn ihr geheiligter Name in dieser Auseinandersetzung mißbraucht wird. Erst gestern habe ich einen grobschlächtigen Kerl auf dem leeren Baugrundstück, auf dem sich die Einwohner San Franciscos zu versammeln pflegen, zu Mord und Totschlag aufrufen hören. ‚Auf Befehl von Abraham Lincoln‘, rief er, ‚habt ihr euch im Namen der Freiheit erhoben, um die Neger zu befreien. Könnt ihr euch dann nicht auch jetzt erheben und euch von ein paar dreckigen Mongolen befreien?‘
Ich persönlich konnte nur mit Staunen und Respekt auf die Chinesen blicken. Ihre Vorfahren hatten bereits die Gestirne beobachtet, als meine überhaupt erst anfingen, Schweine zu halten. Sie kannten schon in ferner Vergangenheit Schwarzpulver und den Buchdruck, was wir beides erst später nachahmten, und ebenso eine Schule der Höflichkeit, die zu verfeinert ist, als daß wir auch nur wünschen könnten, sie nachzuahmen. Sie wandeln auf derselben Erde wie wir, doch scheinen sie aus anderem Lehm geformt. Sie hören zwar dieselbe Stunde schlagen, aber sicher innerhalb einer anderen Epoche. Sie reisen ganz modern mit der Eisenbahn, doch mit solch altem asiatischem Gedankengut und Aberglauben im Gepäck, daß es die Lok in ihrem Lauf hemmen könnte. Was auch immer innerhalb der Großen Mauer gedacht wird, und was die schlitzäugigen, bebrillten Schulmeister in den Dörfern um Peking herum lehren – Religionen, die so alt sind, daß sich unsere Sprache dagegen wie ein halbwüchsiger Knabe ausnimmt; Philosophien von solcher Weisheit, daß unsere besten Philosophen darin Staunenswertes finden – all das reiste über Tausende von Meilen mit mir.
Der Himmel weiß, ob wir während der ganzen Fahrt auch nur einen einzigen Gedanken teilten oder eine einzige gemeinsame Vorstellung hatten, oder ob unsere Augen durch die Fenster der Eisenbahn dieselbe Welt wahrnahmen. Wenn wir an unsere Heimat und unsere Kindheit dachten, welch seltsamen Kontrast müssen die Bilder, die in unserem Geiste entstanden sind, dann geboten haben – während ich also die alte, graue Stadt mit der Burg sehe [gemeint ist Edinburgh, UT], die hoch über dem Meeresarm thront, über allem weht die britische Flagge, und die Wachen schreiten in ihren roten Jacken auf und ab, beschwört einen Wagen entfernt von mir ein Mann im Geiste Dschunken, eine Pagode und ein Schloß aus Porzellan herauf und nennt das mit der gleichen Zuneigung ‚Heimat‘.“
Robert Louis Stevenson, Emigrant aus Leidenschaft. Ein literarischer Reisebericht. Aus dem Englischen übersetzt von Axel Monte. Nachwort von Joachim Kalka, Manesse Verlag, Zürich 2005, S. 268-273
Ein Kommentar zu „Verachtete Völker (I)“