Wohin die Erinnerung führt

Saul Friedländer über sein Leben nach 1945

Der 1932 in Prag geborene Saul Friedländer gehört zu den bedeutendsten Historikern der Shoah. Im Zentrum seiner jahrzehntelangen Forschungen steht sein zweibändiges opus magnum „Das Dritte Reich und die Juden“. Der aus einer deutschsprachigen jüdischen Familie stammende Friedländer zählt selbst zu den Opfern der Verfolgung. Unter schwierigsten Umständen hat er im besetzten Frankreich überlebt, seine Eltern wurden ermordet, vermutlich in Auschwitz. Über die Jahre seiner Kindheit und frühen Jugend hatte er 1979 eine autobiografische Schrift publiziert: „Wenn die Erinnerung kommt“. Jetzt ist bei C.H. Beck die Fortsetzung seiner Memoiren erschienen, in denen Friedländer von seinem Leben seit Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt.

Im Laufe der Jahre, sagt Saul Friedländer, habe er sich fast automatisch angewöhnt, jeden seiner Erfolge elegant herunterzuspielen. Er sei – so wörtlich – zu einem „Meister der falschen Bescheidenheit“ geworden.

Man könnte diese in sich widersprüchliche Selbstcharakterisierung als Koketterie auffassen. Aber sie hat einen tiefernsten Hintergrund. Als der erste Band seiner Memoiren unter dem Titel „Wenn die Erinnerung kommt“ erschienen war, gewannen einige Leser den Eindruck, dass Friedländer zwar in seiner Kindheit einen vollständigen Verlust erlitten hatte, dann jedoch sein eigenes Ich wiedergefunden und ein normales Leben aufgebaut habe. Doch dieser Eindruck, so Friedländer in seinem neuen Buch, treffe nicht zu.

„Menschen, die wie ich in ihrer Kindheit unter katastrophalen Bedingungen lebten, mögen sich äußerlich den Anschein von ‚Normalität‘ geschaffen haben. Aber wie immer diese Fassade auch gestaltet sein mag, der tiefste Kern ihrer Persönlichkeit wird immer eine Verwundung behalten. Daraus entsteht häufig eine seltsame Dynamik: man kann die Verwundung nicht loswerden, man bessert aber, um sie zu kompensieren, unermüdlich das äußere Bild aus – was nicht viel hilft und dazu führt, daß man sich über viele Jahre verzweifelt anstrengt und doch nie sicher, immer verängstigt ist. Dieses stets wiederkehrende Gefühl stumpft irgendwann ab, aber es hat mich über weite Teile meiner bewegten Existenz als eine Art Generalbaß durch Höhen und Tiefen begleitet.“

Die Lektüre dieses Buches führt immer wieder zu Stellen, an denen man das Gefühl hat, man sitze dem Autor wie ein guter Freund gegenüber, dem er Dinge anvertraut, die eigentlich niemanden etwas angehen. Jahrelang litt Friedländer zum Beispiel unter Angstzuständen. Eine schwere Klaustrophobie ließ Theaterbesuche oder Flugreisen zur Tortur werden; aber auch das Gegenteil, also große, offene Plätze, konnte er nicht ertragen. Er suchte Ärzte auf, nahm starke Beruhigungsmittel. Die halfen ein wenig, führten aber auch zur Abhängigkeit.

Saul Friedländer hätte viele gute Gründe, von einem gelungenen, erfolgreichen Erwachsenenleben zu berichten. Hier und da tut er das auch, doch der Grundtenor des Buches ist ein anderer. Da ist von „Gefühlslähmung“ die Rede, von einem „zerstückelten kulturellen Ich“, von der immerwährenden Suche nach der eigenen Identität. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat er in vielen Ländern gelebt und gearbeitet, in Frankreich, Israel, der Schweiz, Schweden und den USA. Doch Wurzeln hat er keine geschlagen.

„[…] wenn man mich fragte, was ich unabhängig von irgendwelchen kulturellen Einwirkungen für meine zentrale Identität halte, etwas, das ich zu verleugnen oder aufzugeben nie bereit wäre, würde ich ohne zu zögern antworten: ich bin Jude, wenn auch ein Jude ohne religiöse Bindung und ohne Traditionsbezug, aber einer, der unauslöschlich von der Shoah gezeichnet ist. Letztlich bin ich nur dies.“

Die Shoah wurde denn auch zu Friedländers wissenschaftlichem Lebensthema und bildet naturgemäß einen der Schwerpunkte des Buches. Wie konnte und sollte er, selbst Opfer und Nachkomme von Opfern, diese Herausforderung bewältigen? Der Weg war steinig. Er betrat ihn zögerlich, behutsam, auf Umwegen. Sein Hauptproblem bestand darin, aus dem überlieferten Aktenmaterial der Täter und den Augenzeugenberichten der Opfer eine schlüssige Gesamtdarstellung zu formen.

„Ich sollte […] viele Jahre benötigen, bis ich eine mögliche Lösung gefunden und eine historische Erzählweise erarbeitet hatte, die beide Dimensionen zusammenführte, ohne daß eine nur als Kulisse der anderen diente, oder, genauer gesagt, ohne daß die Aussagen der Zeugen lediglich die Aktenbefunde illustrierten.“

Ein anderes großes Thema ist Friedländers zwiespältiges, von Nähe und Distanz geprägtes Verhältnis zum Staat Israel. Rückblickend betrachtet er Israels großen Sieg im Sechstagekrieg von 1967 als fundamentale, negative Zäsur in der Geschichte des Staates. Dabei hatte auch er sich damals zunächst von der allgemeinen Euphorie mitreißen lassen.

„[Es ist] mir im nachhinein peinlich, daß ausgerechnet ich, der hätte wissen müssen, was eine Besatzung den Besetzten und den Besatzern antut, das ‚Menetekel‘ nicht sah. […] Das einzige, was ich früh genug wahrnahm, war die Gefahr eines moralischen Verfalls, die die Besatzung in der israelischen Gesellschaft auslösen könnte.

Der Sechstagekrieg ist zum entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte Israels geworden; er markierte das Ende einer Ära und den Beginn einer verhängnisvollen Entwicklung…“

Die dem Sechstagekrieg folgende rigide Besatzungspolitik, dazu das Erstarken nationalistischer und fundamentalistischer Strömungen in der israelischen Politik machten aus Friedländer einen Oppositionellen, der sich auch in der israelischen Friedensbewegung engagierte. Das ist insofern ungewöhnlich, als viele Überlebende der Shoah einen harten anti-palästinensischen Kurs unterstützen und nicht selten ihre Unnachgiebigkeit durch Verweis auf die historische Erfahrung der Verfolgung und Auslöschung rechtfertigen. Friedländer vertritt eine genau entgegengesetzte Position.

„Um jedes Mißverständnis zu vermeiden, argumentierte ich bei allen sich bietenden Gelegenheiten, daß die einzige Lehre, die man aus der Shoah ziehen könne, eben jener Imperativ sei: ‚Erhebt euch gegen das Unrecht, gegen willkürliche Verfolgung, gegen die Weigerung, das Menschsein und die Rechte ‚der anderen‘ anzuerkennen.‘“

Zu den Lebensstationen Friedländers gehörte auch Berlin, wo er Mitte der 1980er Jahre zeitweilig Gast des Wissenschaftskollegs war. Doch er erlebte in dieser Stadt nicht nur Erfreuliches.

Der mit Abstand schlimmste Vorfall spielte sich im Privathaus des Historikers Ernst Nolte ab. Der kürzlich verstorbene Nolte hatte einige Kollegen zum gemeinsamen Abendessen eingeladen. Urplötzlich begann er, Friedländer mit offenkundig antisemitisch motivierten Fragen zu belästigen. Dessen Versuche, die Wogen zu glätten, schlugen fehl. Nolte, einmal in Fahrt gekommen, ließ nicht locker und verschärfte die Gangart immer mehr – mit der Folge, dass Friedländer das Haus fluchtartig verließ.

Das Nolte-Erlebnis sollte eine Ausnahme bleiben. Dergleichen hat Friedländer weder vorher noch nachher erlebt. Seine Beziehungen zu anderen Menschen, ob im privaten oder öffentlichen Bereich, ob freundschaftlich oder konflikthaltig, schildert er mit ausgeprägter Sensibilität und einem sicheren Gespür für Zwischentöne. Auch in Sachfragen fällt kaum eines seiner Urteile apodiktisch aus. Er denkt und schreibt hochgradig differenziert und nuanciert. Wie selbstverständlich räumt er Irrtümer, Fehler oder Versäumnisse ein, ist immer bereit zur Selbstkorrektur, zur Selbstkritik, auch zum Selbstzweifel. Friedländer ist tatsächlich ein „Meister der Bescheidenheit“, der sich der Komplexität vieler Probleme wie auch der Grenzen eigener Erkenntnis stets bewusst ist. In einer Zeit, da das politische Klima sich merklich aufheizt und die lautstarken Rechthaber, Besserwisser und Vereinfacher das große Wort führen, wird man diese außergewöhnliche, in einer ebenso einfachen wie eleganten Sprache verfasste Autobiografie als stillen, lehreichen Kontrapunkt empfinden, als eine Wohltat.

Saul Friedländer, Wohin die Erinnerung führt. Mein Leben. Aus dem Englischen übersetzt von Ruth Keen und Erhard Stölting, C.H. Beck, 329. S., € 26,95

Beitrag für SWR 2, Forum Buch, 25.09.2016

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