Aus Patriotismus und Regierung (1900)
Ich hatte schon mehrmals Gelegenheit, den Gedanken auszusprechen, daß der Patriotismus für unsere Zeit ein unnatürliches, unvernünftiges, schädliches Gefühl sei, welches einen großen Teil der Übel verursache, unter denen die Menschheit leidet, und daß daher dieses Gefühl nicht genährt und groß gezogen werden müßte, wie es jetzt geschieht, sondern im Gegenteil unterdrückt und durch alle Mittel, die vernünftigen Menschen zugänglich sind, vernichtet werden sollte.
Aber sonderbar! Trotz dem unwiderleglichen und augenscheinlichen Zusammenhang der die Völker ruinierenden allgemeinen Kriegsrüstungen und mörderischen Kriege mit diesem Gefühl, begegneten und begegnen noch heute alle meine Argumente bezüglich der Unzeitgemäßheit und Schädlichkeit des Patriotismus entweder nur Stillschweigen oder absichtlichem Nichtverstehen, immer aber ein und derselben sonderlichen Erwiderung: man pflegt zu sagen, daß nur der schlechte Patriotismus schädlich sei, der Jingoismus und Chauvinismus, daß aber der richtige gute Patriotismus ein sehr erhabenen, moralisches Gefühl sei, welches zu verurteilen nicht nur unvernünftig, sondern auch verbrecherisch wäre. Darüber aber, worin dieser richtige, gute Patriotismus besteht, wird entweder gar nicht gesprochen, es sei denn in aufgedonnerten, hochfliegenden Phrasen, die nichts weniger als eine Erklärung jenes Begriffs sind, oder es wird dem Begriffe Patriotismus etwas unterlegt, das nichts gemeinsames hat mit jenem Patriotismus, den wir alle kennen und unter dem wir alle so grausam zu leiden haben.