Für einen neuen Sicherheitsbegriff
Wir leben in einer globalen Katastrophengesellschaft, behaupte ich. Ein drastischer Begriff, gewiss, aber er erscheint mir aus drei Gründen gerechtfertigt: Zum einen wird unsere Welt immer öfter von schweren Katastrophen heimgesucht, von Naturkatastrophen, technischen Katastrophen, aber auch von ökonomischen, sozialen oder politischen Katastrophen. Sodann ist unser Leben durch ein enormes Katastrophen-Potential gekennzeichnet. Und schließlich: Viele von uns sind unfähig oder unwillig, diese Lage mit nüchternen Augen zu betrachten. Wir neigen zu extremen Ausschlägen, entweder zur Verdrängung und Beschwichtigung oder zur Dramatisierung und Hysterie. Die Katastrophengesellschaft laviert zwischen Panikmache und Verharmlosung. Eine Gesellschaft der Extreme also – und das hat fatale Folgen: Auf manchen Problemfeldern tut sie zu viel, auf anderen zu wenig, auf allzu vielen auch gar nichts. Vor allem aber, so meine These, tut sie das Falsche. Denn sie versucht ihre Probleme mit denselben Mitteln zu lösen, die sie verursacht haben. Sie glaubt allen Ernstes, mit Hilfe moderner Technik Sicherheit erlangen zu können.
Betrachten wir zunächst das eine Extrem, diejenigen, die sich die Welt schön reden. Katastrophen, sagen sie, sind nichts Neues unter der Sonne. Es hat sogar Zeiten gegeben, allen voran das Europa des 14. Jahrhunderts, in denen die Menschen weit mehr von schweren Katastrophen gebeutelt wurden als heute. Unsere Gegenwart wiederum sei nicht primär durch ihre katastrophischen Züge gekennzeichnet, sondern, im Gegenteil, durch den historisch einzigartigen Grad an Sicherheit, den man dank moderner Technik und Medizin in vielen Weltteilen erreicht habe. Und stimmt es denn etwa nicht? Die durchschnittliche Lebenserwartung ist in der Tat höher als je zuvor. Was an Gefährdungen des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit noch verblieben ist, lässt sich meist den individuellen, oft bedenkenlos und wider besseres Wissen eingegangenen Risiken zuschreiben: Nikotin, Alkohol, unvorsichtiges Verhalten im Straßenverkehr fordern weit mehr Opfer als die nur selten auftretenden Katastrophen.
Eine typische „Erste Welt-Perspektive“ sei das, protestieren andere, mit der Lebenswirklichkeit etwa in den Hunger- und Elendszonen unseres Planeten habe sie wenig zu tun. Und dann zählen sie die Bedrohungen auf, denen wir ausgesetzt sind. Es sind derer so viele, dass man sich schon bald fragt, wovor man sich denn nun am meisten fürchten soll. Ist es die Klimakatastrophe? Oder sind es die Seuchen, die angeblich allerorten auf dem Vormarsch sind: AIDS, SARS, BSE, Vogelgrippe? Ist das ungebremste Wachstum der Weltbevölkerung die Crux? Sind es Migrationsströme, Megacitys, Verelendung? Oder Artensterben, Vernichtung der Regenwälder, Ausbreitung der Wüsten? Ist am Ende doch die industrielle Großtechnik das Hauptübel, die von Tschernobyl bis Harrisburg, von Bhopal bis Seveso und bis hinein in unsere Gegenwart eine Spur der Zerstörung zieht? Oder müssen uns die ganz neuen Bedrohungen am meisten beunruhigen, etwa das Katastrophenpotential des globalen Terrorismus?
Natürlich stehen sich Schönredner und Schwarzmaler nicht so idealtypisch gegenüber, wie ich es hier gerade suggeriere. Die meisten von uns sind nämlich Schönredner und Schwarzmaler in einer Person – eine ideologisch bedingte Schizophrenie, wenn man so will. Da plädiert der eine vehement für den Bau neuer Kernkraftwerke, läuft aber beim ersten Anzeichen von Schweinegrippe mit Mundschutz durch die Gegend. Da begegnet der andere dem Klimawandel mit stoischer Ruhe, wird aber angesichts des globalen Terrorismus regelmäßig von Panikattacken heimgesucht. Und so weiter. Ein mehr oder weniger fest gefügtes Weltbild bestimmt, worüber man sich aufregt und worüber nicht.
Dabei ist das, was Schönredner und Schwarzmaler im Einzelnen zu sagen haben, ja keineswegs falsch. Es ist in der Tat so: in einigen Weltteilen hat unser Leben einen historisch einzigartigen Grad an Sicherheit erreicht. Und es ist ebenso wahr, dass wir es gegenwärtig mit einem vermutlich noch nie da gewesenen Katastrophenpotential zu tun haben. Unsere Welt ist so sicher wie nie zuvor – und zugleich so katastrophenträchtig wie nie zuvor. Warum fällt es so schwer, dieses Paradoxon, dieses Dilemma anzuerkennen und nach seinen Ursachen zu forschen? Warum fällt es so schwer, die eben aufgelisteten Bedrohungen wie auch die Sicherheiten nüchtern in ihrer tatsächlichen Bedeutung zur Kenntnis zu nehmen und in Rechnung zu stellen? Vielleicht sogar Zusammenhänge zwischen einzelnen Phänomenen zu erkennen? Warum muss man die einen herunterspielen und die anderen hochspielen? Und warum muss man sie gegeneinander ausspielen?
Unsere Welt ist so sicher wie nie zuvor – und zugleich so katastrophenträchtig wie nie zuvor. Warum fällt es so schwer, dieses Paradoxon, dieses Dilemma anzuerkennen und nach seinen Ursachen zu forschen?
Mitunter gleicht die Katastrophengesellschaft einem Wettbüro. Die Spieler treffen Aussagen über die Zukunft, die diametral entgegengesetzt und obendrein anmaßend sind. Sie stellen Behauptungen auf, die derart weit in die Zukunft reichen, dass es sich nicht länger um seriöse Prognosen, Hochrechnungen, Modellierungen oder Szenarios handelt, sondern um Prophezeiungen, um wissenschaftlich verbrämte Formen der Wahrsagerei. Es gibt Leute, vermeintliche oder tatsächliche Experten, die zu wissen vorgeben, worauf unser gegenwärtiges Tun und Lassen am Ende hinauslaufen wird, auf so etwas wie eine finale Großkatastrophe nämlich, und es gibt andere, die versichern, dass genau dies nicht geschehen wird. „Es ist bereits zu spät“, sagen die einen. „Nein, noch können wir es schaffen“, entgegnen die anderen. So erschrecken und beruhigen sie ihr Publikum schon seit Jahren und Jahrzehnten.
Dennis Meadows zum Beispiel, berühmt geworden durch seine „Club of Rome“-Studien zu den Grenzen des Wachstums, zeigte sich schon Ende der 1980er Jahre resigniert. Die Menschheit verhalte sich wie ein Selbstmörder, sagte er damals, und es habe keinen Sinn mehr, einem Selbstmörder gut zuzureden, wenn er bereits aus dem Fenster gesprungen ist. Andere verbreiten unterdessen unentwegt Optimismus. Vor ein paar Wochen konnte man es wieder schwarz auf weiß lesen. Eine große deutsche Tageszeitung brachte ein Interview mit Ex-Umweltminister Töpfer und Vattenfall-Chef Josefsson zur Klimaentwicklung. Auf die Eingangsfrage, ob wir denn die von Wissenschaftlern geforderte Kehrtwende – also: 90 Prozent weniger klimarelevante Emissionen in den Industriestaaten bis 2050 – erreichen können, antwortete Josefsson: „Ja, das ist machbar.“ Und Töpfer fügte hinzu: „Das wird auch so kommen.“ Leider lieferte das ganzseitige Interview dann wenig konkrete Anhaltspunkte für solcherlei Optimismus.
Wie auch immer: Die Behauptung, dass wir es „noch“ schaffen können, ist ebenso spekulativ wie die, dass es bereits „zu spät“ sei. Denn wer will das wissen? Wir haben so gewaltige Probleme aufgetürmt, dass sich zur Frage, ob wir sie noch rechtzeitig werden entschärfen können, allenfalls vage Vermutungen anstellen lassen. Die Vorstellung, wir könnten heute ein einigermaßen realistisches Bild der Welt im Jahr 2050 oder gar 2100 entwerfen, wäre reine Hybris.
Was immer man unter einer Katastrophe auch genau versteht, sicher ist, dass im Zuge des katastrophischen Geschehens etwas in großem Stil außer Kontrolle gerät. Es entzieht sich der Kontrolle durch den Menschen oder es verliert die „Selbst-Kontrolle“. Eine Katastrophe ist ein Phänomen sui generis, ein fundamentaler Einschnitt, der zunächst keinerlei Entwicklungsrichtung erkennen lässt. Katastrophen können ganze Gemeinschaften vernichten oder zerrütten. Für die Betroffenen gerät die Welt aus den Fugen. Aus ihrer subjektiven Perspektive scheinen die Götterdämmerung, die Apokalypse, die letzten Tage der Menschheit angebrochen.
Manche Katastrophen kommen plötzlich und unerwartet; andere bauen sich langsam, fast unmerklich auf – als „schleichende Katastrophen“. Es gibt Katastrophen, die vermeidbar gewesen wären, und es gibt solche, die unvermeidbar sind, gegen die man sich lediglich wappnen kann oder hätte wappnen können. Manchmal werden Katastrophen noch rechtzeitig abgewendet, wobei das Glück oft eine größere Rolle spielt als der Verstand; man spricht von „Beinahe-Katastrophen“. Wenn Katastrophen bereits im Gange sind, muss man retten, was zu retten ist; vor allem muss man sie räumlich und zeitlich überschaubar und abgrenzbar halten, ihr „Übergreifen“ verhindern. Wenn das nicht gelingt, können sie Kettenreaktionen und Schockwellen auslösen, die nur schwer oder gar nicht zu bremsen sind.
Eine verbreitete Auffassung besagt: Auch wenn Menschen als Verursacher mitbeteiligt sind, geschehen Katastrophen immer unbeabsichtigt. Im Vorfeld einer Katastrophe mögen Fehler passieren, es mag Fahrlässigkeit, billigende Inkaufnahme und somit Schuldige geben, zumindest Verantwortliche. Aber es gibt keine Täter, die das Desaster vorsätzlich herbeigeführt haben, es gibt keine Hintermänner und Drahtzieher. Niemand hat – zum Beispiel – die Katastrophe von Tschernobyl gewollt. Das klingt einleuchtend. Und doch behaupte ich, dass es auch absichtsvoll herbeigeführte Katastrophen gibt. Insbesondere glaube ich, dass der Terrorakt des 11. September 2001 als Katastrophe begriffen werden kann, mehr noch: dass der Terrorismus des 21. Jahrhunderts sich die katastrophenträchtigen Eigenheiten unserer Gesellschaft zunutze macht und damit zugleich deren katastrophische Züge verstärkt. 9/11 ist zugleich Symptom und Menetekel der Katastrophengesellschaft. Davon später mehr.
9/11 ist zugleich Symptom und Menetekel der Katastrophengesellschaft.
Wann gilt uns ein Ereignis als Katastrophe? Wenn die Zahl menschlicher Opfer besonders hoch ist? Offenkundig nicht. Denn es gibt viele opferreiche Geschehnisse, die keinen Eingang in die Katastrophengeschichte gefunden haben. Und umgekehrt bezeichnen wir manches Ereignis als Katastrophe, obwohl es nur eine vergleichsweise geringe Zahl menschlicher Opfer gefordert hat. Das ist besonders dann der Fall, wenn es sich um technische Katastrophen handelt; hier scheint die Opferzahl zuweilen fast nebensächlich zu sein. Wie sonst ließe sich erklären, dass die Explosion der Raumfähre „Challenger“ im Januar 1986, bei der sieben Astronauten umkamen, als „Challenger-Katastrophe“ in die Geschichte eingegangen ist, während viele Flugzeugabstürze oder Schiffsuntergänge, bei denen weit mehr Opfer zu beklagen waren, längst vergessen oder allenfalls als Unglücke, Unfälle, Havarien oder Ähnliches im Gedächtnis geblieben sind? Es gab Zugunglücke, bei denen mehr Menschen starben als 1998 im niedersächsischen Eschede; dennoch gilt die damalige Entgleisung des hochmodernen ICE als Katastrophe, viele der anderen Unglücke hingegen nicht.
Technische Katastrophen bemessen sich also nicht allein und nicht in erster Linie an der Opferzahl. Wenn sie als Katastrophen rubriziert werden und ins kollektive Gedächtnis eingehen, dann vor allem, weil die jeweilige Technik mit einem enormen Anspruch verknüpft war, weil sie ein Versprechen, eine Vision verkörperte – um dann in der Praxis spektakulär zu scheitern. Je größer das Prestige eines technischen Projekts, desto tiefer der Absturz, desto größer die Fallhöhe. Darum lässt der Untergang der „Titanic“ die Menschen bis heute nicht los, darum bleiben uns die brennenden Challengers und Zeppeline in Erinnerung, während viele Autobahn-Schlachtfelder längst in Vergessenheit geraten sind.
„Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt. Die Natur kennt keine Katastrophen.“ Das hat der Schriftsteller Max Frisch gesagt. Worauf Frisch mit seiner Aussage abzielt, scheint klar zu sein. Wenn die Natur sich selbst überlassen bleibt – ohne den Menschen also –, dann ist, was auch immer in ihr geschieht, keine Katastrophe. Auch Erdbeben oder Vulkanausbrüche nicht; sie werden es erst, wenn der Mensch von ihnen betroffen ist – und sie als Katastrophen bezeichnet.
So gilt es uns nicht als Katastrophe, wenn irgendwo in der Arktis eine große Eiswand ins Meer stürzt. Weil der Vorgang mit großer Wahrscheinlichkeit unter Ausschluss menschlicher Beobachter stattfindet, erfahren wir nicht einmal etwas davon; die abstürzende Eiswand ist ein Nicht-Ereignis. Auch wenn zufällig ein Touristenschiff in der Nähe kreuzt und die Reisenden den Vorgang aus sicherer Entfernung beobachten können, nehmen sie das Ereignis nicht als Katastrophe, sondern als ein grandioses Naturschauspiel wahr. Sie filmen und fotografieren es. Erst wenn das Touristenschiff von den herabstürzenden Eismassen erfasst, zerschlagen und im Polarmeer versenkt wird, würde aus dem Naturschauspiel eine Naturkatastrophe.
Ich habe gegen Frischs These zwei Vorbehalte: Zum einen glaube ich, dass Menschen bestimmte Ereignisse auch dann als Katastrophen wahrnehmen können – und wahrnehmen sollten! –, wenn sie selbst davon nicht betroffen sind. Menschen sind empathie-fähige Wesen, und diese Empathie muss sich keineswegs bloß auf Artgenossen beschränken, sondern kann auch anderen Lebewesen gelten.
Zum anderen leistet Frischs Bemerkung dem Eindruck Vorschub, als existiere da noch eine weithin intakte Natur, die hin und wieder über die Stränge schlage und in Gestalt von Katastrophen den Menschen bedränge. Tatsächlich ist es aber so: Der Mensch hat im Laufe seiner Geschichte große Teile seiner natürlichen Lebensgrundlagen technisch durchdrungen, verändert, vernichtet. Er hat die Natur so „nachhaltig“ umgeprägt, dass man sie nur noch sehr bedingt als „Natur“ ansprechen kann. Soll heißen: Es gibt keine unberührte Natur mehr, nur noch berührte. Sie ist so weitgehend vom Menschen funktionalisiert worden, die Eingriffe in sie sind so gravierend, dass sie längst zum Hybrid geworden ist, der nicht mehr als Gegenbegriff zu „Mensch“, „Gesellschaft“ oder „Technik“ taugt. Durch seine Eingriffe hat der Mensch zwar seine unmittelbare, alltägliche Abhängigkeit von der Natur reduziert, doch das Problem seiner grundsätzlichen Abhängigkeit drastisch verschärft. Er hat die Natur in die Defensive gedrängt – und mit ihr sich selbst.
Wenn nun aber die Natur nicht mehr bloße Natur ist, sondern einen Hybrid-Charakter angenommen hat, dann sind selbstverständlich auch die Natur-Katastrophen hybride Phänomene. Auch bei ihnen hat der Mensch seine Hände im Spiel. Vor diesem Hintergrund wird die Feststellung, dass die Natur keine Katastrophen kenne, unzutreffend – oder behält allenfalls im historischen Rückblick eine gewisse Gültigkeit. Auf Gegenwart und Zukunft bezogen, handelt es sich hingegen immer öfter um die menschlich durchdrungene, veränderte Natur und folglich um Katastrophen, die vom Menschen verursacht oder mitverursacht werden.
Dass der Mensch offenkundig maßgeblichen Anteil am aktuellen Klimawandel hat, macht die Sache an sich nicht bedrohlicher. Sie liefert, im Gegenteil, sogar Ansatzpunkte für ein Handeln, das darauf abzielt, den Temperaturanstieg zu drosseln.
Man könnte nun aus diesen Beobachtungen den Schluss ziehen, dass Katastrophen dann besonders zu fürchten seien, wenn der Mensch als Verursacher beteiligt ist. Doch so einfach ist es nicht. Nehmen wir die Klimakatastrophe als Beispiel: Dass der Mensch offenkundig maßgeblichen Anteil am aktuellen Klimawandel hat, macht die Sache an sich nicht bedrohlicher. Sie liefert, im Gegenteil, sogar Ansatzpunkte für ein Handeln, das darauf abzielt, den Temperaturanstieg zu drosseln. Wäre die Erderwärmung ein rein natürliches Phänomen, besäßen wir kaum eine Handhabe.
Sodann bekommt die Menschheit die Folgen eines Klimawandels nicht zum ersten Mal zu spüren. Entscheidend ist aber nicht so sehr, dass sie ihn diesmal selbst verursacht hat, sondern dass die Bedingungen, unter denen er stattfindet, sich gründlich verändert haben. Im frühen Mittelalter zum Beispiel, zwischen dem vierten und siebten Jahrhundert, stieg der Meeresspiegel um etwa zwei Meter, Folge einer längerfristigen Erwärmung, aber auch tektonischer Veränderungen. In jener Zeit wurden die nordwesteuropäischen Küstengebiete von schwersten Sturmfluten heimgesucht und weiträumig überschwemmt. Allerdings war die Nordseeküste nur äußerst dünn besiedelt; zudem bot das Landesinnere den bedrohten Menschen noch freie Rückzugsräume. Irgendwelche Analogieschlüsse zwischen damals und heute sind daher völlig verfehlt. Die Nordseeküste vor 1500 Jahren ist mit der heutigen Küste nicht einmal entfernt zu vergleichen. Und diese Aussage gilt generell: Auf dem Planeten Erde leben aktuell mehr Menschen als aufaddiert während der gesamten Zeit vor der Industrialisierung geboren wurden. Und sie leben nicht zuletzt in dicht bebauten und oft hoch industrialisierten Küstenregionen. Genau hier liegt denn auch das eigentliche Katastrophenpotenzial. Denn: Nicht der Klimawandel ist neu – neu ist die Welt, auf die er trifft! Nicht der Klimawandel als solcher ist katastrophenträchtig, sondern die Welt, in der er stattfindet, ist katastrophenanfällig. Wir haben uns zwar gegen alle möglichen Gefahren und Risiken gewappnet, dennoch ist unser natürlicher und künstlich geschaffener Lebensraum – und das ist nur scheinbar paradox – weit weniger belastbar, weit störanfälliger, fragiler, verwundbarer als ehedem. Um zu funktionieren, ist unsere Welt auf ein hohes Maß an Normalität und Stabilität angewiesen. Mit unangenehmen Überraschungen kommt sie schlecht zurecht. Als wir unsere Welt so konstruiert haben, wie sie sich heute darbietet, sind wir offenbar recht unbekümmert zu Werke gegangen. Um die ökologischen oder sozialen Folgen unseres Handelns haben wir uns kaum gesorgt. Was den Klimawandel angeht, so haben wir an eine solche Eventualität schlechterdings nicht gedacht: weder an einen natürlichen Klimawandel noch an einen anthropogenen, schon gar nicht an einen drastischen. Er ist einfach nicht vorgesehen. Wer an die Einsichts- und Lernfähigkeit des Menschen glaubt, mag sagen: Hätten wir die Möglichkeit solch klimatischer Veränderungen frühzeitig in Rechnung gestellt, würden wir vielleicht eine ganz andere, eine weit weniger verwundbare Welt konstruiert haben. Aber solche Betrachtungen sind müßig.
Die Klimadebatte ist übrigens ein Musterbeispiel für meine eingangs formulierte These, dass die Katastrophengesellschaft vor allem auf technische Problemlösungen setzt. Fast täglich kann man die Ankündigungen in den Zeitungen lesen: Schon bald werden wir in Sachen CO2-Reduktion nicht mehr kleckern, sondern klotzen! Wir werden Europa mit Solarstrom aus Nordafrika versorgen, sogenannte Ökoautos bauen, Glühbirnen durch Energiesparlampen ersetzen und – wer weiß – vielleicht vergraben wir ja doch irgendwann unser Kohlendioxid unter der Erde. Auch Klaus Töpfer setzt voller Zuversicht auf technische Innovation. Im schon zitierten Interview zeigt er sich sicher, dass wir in den kommenden Jahren insbesondere in den USA – ich zitiere – „ein Feuerwerk technologischer Veränderungen“ erleben werden. Diese würden nicht nur dem Klimaschutz nützen, sondern selbstverständlich auch – ein schöner Nebeneffekt – dem wirtschaftlichen Wachstum Impulse geben. Womit wir dann auch schon bei einem weiteren Credo des innovationsfreudigen Teils der Katastrophengesellschaft angelangt wären. Es lautet, dass sich Ökonomie und Ökologie ohne weiteres miteinander vereinbaren lassen. Als hinlänglicher Beweis gilt vielen die Tatsache, dass mit relativ umweltverträglicher Technik wirtschaftliche Erfolge zu erzielen sind. Nach dem Motto: Wir werden immer sauberer und zugleich immer reicher. Ist da vielleicht so etwas wie die Quadratur des Kreises gelungen?
Nicht ganz. In Wirklichkeit ist alles viel profaner. Die moderne Technik – also die Technik, die sich seit der ersten industriellen Revolution beschleunigt entwickelt hat – ist ein Mittel zur Effizienzsteigerung. Was als „effizient“ gilt, hängt vom jeweiligen technischen Entwicklungsstand und den gesellschaftlichen Problemlagen ab. Derzeit wird aus unmittelbar einsichtigen Gründen großer Wert auf die „Energieeffizienz“ oder „Ökoeffizienz“ von Technik gelegt. Niemand wird die Erfolge leugnen. Zweifellos wurden einige Probleme durch technischen Fortschritt entschärft oder gemildert. Und nichts spricht dagegen, dieses Fortschrittspotenzial noch entschiedener zu nutzen. Aber es braucht schon einen ziemlich verwegenen Optimismus, um zu glauben, dass sich auf diese – technische – Weise der Widerspruch zwischen globaler Ökologie auf der einen und der auf Wachstum programmierten kapitalistischen Weltökonomie auf der anderen Seite lösen ließe. Dieser Widerspruch ist fundamental, und er wird sich in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten weiter verschärfen. Er ist vor allem deshalb so fundamental, weil die moderne Technik nicht lediglich ein „Problemlöser“, sondern mindestens ebenso sehr ein „Problemerzeuger“ ist.
In der öffentlichen Wahrnehmung steht jedoch nach wie vor nicht diese grundlegende Ambivalenz der Technik, sondern ihre historische Rolle als Problemlöser im Vordergrund. Und die präsentiert sich zweifellos als eine beeindruckende Erfolgsgeschichte. Ohne diese Geschichte, ohne den technischen Fortschritt also, wäre ja auch die menschliche Evolution schlechterdings nicht vorstellbar. Denn diese braucht, soll sie gelingen, vor allem Sicherheit, also einen Schutzraum gegen äußere Störfaktoren und innere Unwägbarkeiten. Und nichts hat die Sicherung unserer Lebensverhältnisse so befördert wie die Technik. Sie sichert uns vor den Launen der Natur und sie hilft uns, den Frieden zu sichern, sie sichert unseren Konsum und unsere Energieversorgung, sie sichert unsere Mobilität und unsere Gesundheit.
Insbesondere die vergangenen anderthalb Jahrhunderte sind eine Zeit machtvollen technischen Fortschritts gewesen. Aber dieser Fortschritt hat einen Preis verlangt – und tut das nach wie vor. Die Schattenseiten manifestieren sich gewiss nicht allein in Gestalt von Katastrophen, doch diese ragen wie die Spitzen der Eisberge aus der Technisierungsepoche heraus. Die Geschichte der Technik ist eben nicht nur die Geschichte genialer Erfindungen und Ingenieurleistungen, sondern immer auch die Geschichte katastrophalen Scheiterns, die Geschichte einstürzender Brücken und Gebäude oder abstürzender Flugzeuge, entgleisender oder kollidierender Züge, die Geschichte von Chemiefabriken, die ihre Umwelt vergiften, von pharmazeutischen Produkten, die krank machen, die Geschichte von zerbrochenen Öltankern, geborstenen Staudämmen, havarierten Kernkraftwerken oder explodierten Raumkapseln.
Besonders störanfällig und damit katastrophenträchtig sind technische Systeme, die mit gefährlichen Substanzen hantieren oder komplizierte Transformationsprozesse bewerkstelligen. Die inneren Abläufe dieser Systeme sind notwendigerweise durch eine Vielzahl von Interaktionen gekennzeichnet, weisen also eine hohe Komplexität auf. Das ist so lange unproblematisch, wie der Betriebsablauf funktioniert und nur die geplanten Interaktionen stattfinden. Die Probleme beginnen, wenn unabhängig voneinander Störungen auftreten. Bereits zwei unabhängige Störungen genügen, um überraschende, ungeplante Interaktionen in Gang zu setzen. Unversehens sind die Betreiber der Anlage mit Verzweigungen, Sprüngen oder Rückkopplungen konfrontiert, die sie nicht vorhergesehen haben. Sie können zu komplizierten Verwicklungen führen, zum Ausfall weiterer Komponenten oder des ganzen Systems, zu schweren Unfällen oder Katastrophen. Selbstverständlich versuchen die Betreiber solch komplexer Systeme, die Sicherheit zu erhöhen, indem sie möglichst viele Eventualitäten vorhersehen oder rückblickend die Abläufe rekonstruieren, um ihre Wiederholung auszuschließen. Das tun sie in der Regel durch technische Problemlösungen, also durch den Einbau von Sicherungssystemen, Puffern oder Redundanzen – doch damit erhöhen sie selbstverständlich abermals die Zahl der möglichen Interaktionen und damit die technische Komplexität des Systems. Was für einzelne technische Systeme gilt, lässt sich analog für größere technische Zusammenhänge sagen: Denn auch der mögliche Kollaps großer Infrastrukturen, wie der Strom- oder Kommunikationsnetze, hätte katastrophale Folgen, wenn er sich länger als ein paar Stunden hinziehen würde. Nichts anderes gilt schließlich für den sich ständig intensivierenden Prozess der Technisierung im Allgemeinen. Er zeitigt Folgen, die sich immer deutlicher erkennbar zu ökologischen und sozialen Bedrohungen globaler Dimension aufschaukeln. Die großen, global ausgreifenden Umweltschädigungen gehören insoweit zum technischen Lauf der Dinge, sie sind unbeabsichtigte Folgen absichtlicher Eingriffe in natürliche und gesellschaftliche Prozesse. Aufs Ganze gesehen sind sie längst nicht mehr einzelnen Verursachern zuzurechnen, sondern unvermeidbare Begleiterscheinungen eines anonymen Prozesses.
Die Zahl der durch technischen Zugriff gelösten Probleme steigt zwar; doch die Zahl der im Zuge dieses Lösungsprozesses neu geschaffenen Probleme steigt schneller – und vermutlich werden die Probleme auch größer.
Im Angesicht dieser und anderer Katastrophen und Katastrophenpotentiale vertrauen wir nach wie vor und in manchen Bereichen mehr denn je auf einen technischen Zugriff. Wir setzen unsere Technik immer öfter dazu ein, die von ihr selbst erzeugten Probleme zu lösen, wohl wissend oder ahnend, dass die vermeintlichen Problemlösungen ihrerseits neue, abermals technisch zu lösende Probleme hervorbringen werden. Wohin soll das führen? Wird dieser Prozess irgendwann zu einem Ende kommen? Das ist derzeit schwer vorstellbar. Denn die Zahl der durch technischen Zugriff gelösten Probleme steigt zwar; doch die Zahl der im Zuge dieses Lösungsprozesses neu geschaffenen Probleme steigt schneller – und vermutlich werden die Probleme auch größer.
Einzelne weit blickende Beobachter haben dieses Dilemma schon früh erkannt und beschrieben, ohne freilich auf sonderliche Resonanz zu stoßen. Schon 1912 bemerkte der Soziologe Julius Goldstein: „Es hat den Anschein, als ob, wie in der Wissenschaft, so auch in der Technik, mit jedem Problem, das gelöst wird, neue Probleme entstehen. Es scheint, als ob der Fortschritt mehr in dem Herausarbeiten neuer Probleme als in dem Vermindern der Probleme bestände.“ Auf gesellschaftlicher Ebene sieht Goldstein ein Ergebnis, das den um Rationalität und Problemlösung bemühten einzeltechnischen Handlungen Hohn spricht: „Je mehr die eine Epoche das Dasein technisch rationalisiert, um so größer wird die Summe der Irrationalitäten in der nächsten.“ Ähnlich das Urteil des Ökonomen Otto Veit 1935: „Durch die Technik sind alle Dinge extremer geworden, und alle Extreme sind verstärkt – die negativen sowie die positiven. Die Höhepunkte sind herrlicher geworden und die Abgründe fürchterlicher.“
Wie der technische Fortschritt ständig Probleme löst, die vermeintlichen Lösungen jedoch immer wieder neue, technisch zu lösende Probleme hervorbringen, so produziert er immer größere Sicherheit und zugleich immer größere Gefahrenlagen. Den Gefahren versucht man durch immer neue und aufwendigere sicherheitstechnische Maßnahmen beizukommen, ohne doch je wirkliche Sicherheit zu erlangen. Mehr noch: das exzessive Sicherheitsstreben gebiert permanent neue und größere Unsicherheit. Der gesamte Prozess führt mit Notwendigkeit in eine Vielzahl von Aporien, unter denen ein immer auswegloseres Sicherheitsdilemma hervorsticht. Dieses Sicherheitsdilemma hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts beständig verstärkt, was, je nach Perspektive, sowohl die Beobachtung zulässt, dass unser Leben sicherer geworden sei, als auch die Bobachtung, dass es unsicherer geworden sei. Doch beide Beobachtungen geben nur die halbe Wahrheit wieder. Sicherheit und Unsicherheit sind zwei Seiten derselben Medaille.
Den Gefahren versucht man durch immer neue und aufwendigere sicherheitstechnische Maßnahmen beizukommen, ohne doch je wirkliche Sicherheit zu erlangen. Mehr noch: das exzessive Sicherheitsstreben gebiert permanent neue und größere Unsicherheit.
Am Beispiel der Klimaentwicklung hatte ich schon dargelegt, dass deren Katastrophenpotential vor allem daher rührt, dass sie auf eine Welt trifft, die auf klimatische Veränderungen dieser Dimension nicht vorbereitet ist, auf eine hoch technisierte Welt also, die nicht allein von innen, sondern auch von außen gefährdet ist, die nicht nur zerbrechlich ist, sondern auch verwundbar. Genau hier liegt auch das schon angesprochene Katastrophenpotential des globalen Terrorismus. Der 11. September 2001 hat die Gefährdung unserer zivilisatorischen Errungenschaften in einem kollektiven Schockerlebnis zu Bewusstsein gebracht. An diesem Tag wurde demonstriert, wie – im buchstäblichen Sinne – einsturzgefährdet unsere technischen Sicherheitskonstruktionen sind. Die moderne technische Welt ist für diejenigen, die Desaster größten Ausmaßes herbeiführen wollen, geradezu eine Einladung. Die technische Zivilisation bietet jenen, die sich der von ihr geforderten Rationalität widersetzen, Angriffspunkte im Übermaß.
Gegen eine solche Bedrohung sicherheitstechnisch aufzurüsten, wie in den vergangenen Jahren geschehen, kann keine wirkliche Sicherheit schaffen. Vielmehr käme es darauf an, die Welt so zu gestalten, dass sich möglichst viele Menschen in ihr zu Hause fühlen, sie als ihre Welt begreifen und sich den angesprochenen Rationalitätsstandards aus innerer Überzeugung fügen. Das freilich ist eine Aufgabe, die mit Technik allein gewiss nicht zu bewältigen ist und einen viel breiteren, multidimensionalen Ansatz verlangt, einen Ansatz also, der auch politische, soziale, ökologische und kulturelle Aspekte berücksichtigt. Diese Einsicht lässt sich mit etwas Phantasie ohne weiteres auch auf andere Katastrophentypen übertragen. Und das heißt: Wer Wege aus der Katastrophengesellschaft finden will, braucht kein „Feuerwerk“ technischer Innovationen, sondern ein neues Verständnis von Sicherheit.
Beitrag für SWR 2, „Aula“, 26.07.2009