Brauchen Demokratien Helden?
Erinnern Sie sich noch an den FAZ-Fragebogen? Allwöchentlich erschien er im Magazin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Mehr oder weniger prominente Zeitgenossen beantworteten einen umfänglichen Fragenkatalog. Gleich mehrere Fragen galten dem Thema Heldentum. Auch wenn es das alte FAZ-Magazin nicht mehr gibt, der Fragebogen hat überlebt. Nach dem Motto „Erkenne Dich selbst“ nehme ich mir den Katalog alle paar Jahre neu vor und vergleiche die Ergebnisse. Alle meine Antworten haben sich im Laufe der Zeit verändert, nur eine ist gleich geblieben. Auf die Frage nach meinen Lieblingshelden in der Geschichte antworte ich: „Die Bürger von Calais“.
Im Jahr 1346, während des Hundertjährigen Krieges, wurde das französische Calais monatelang von den Engländern belagert. Die Stadt drohte geplündert und zerstört zu werden. Da haben der Legende zufolge sechs angesehene Bürger gemeinsam den Entschluss gefasst, sich dem Feind als Geiseln auszuliefern, also: stellvertretend für die anderen ihr Leben zu opfern. Barfuß, nur mit einem Hemd bekleidet und einen Strick um den Hals sollen sie vor den englischen König getreten sein. Dieser hatte sie als Vergeltung für die Verluste seiner Belagerungstruppe hinrichten lassen wollen, ließ aber dann doch von seinem Vorhaben ab und verschonte die sechs. Auch wenn die Bürger überlebt haben – an ihrer großen Tat ändert das nichts. Sie waren zum Äußersten entschlossen.
Warum sind diese Bürger für mich Helden? Die Antwort ist zweigeteilt. Machen wir zunächst die „Gegenprobe“ und stellen uns vor, sie hätten anders gehandelt. Wie leicht wäre es für sie gewesen, einfach nichts zu tun und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Niemand hätte ihnen daraus einen Vorwurf gemacht. Ebenso wenig, wenn sie genau umgekehrt gehandelt, also ihre Mitbürger zu einem opferreichen Kampf aufgewiegelt hätten. Das Ergebnis wäre ein Blutbad gewesen – und manch einer hätte in diesem sinnlosen Untergang vielleicht noch den „Heldenmut“ gefeiert.
Die Bürger von Calais gingen einen anderen Weg: Sie handelten wohl überlegt, mutig und selbstlos, verantwortungs- und pflichtbewusst. Sie stellten sich in den Dienst der Gemeinschaft, waren bereit, für die anderen Bürger, für die Stadt zu sterben. Niemand hätte eine solche Tat und ein solches Opfer, das größtmögliche, von ihnen erwarten können, von ihnen fordern dürfen.
Die Bürger von Calais handelten mutig und selbstlos, verantwortungs- und pflichbewusst. Sie stellten sich in den Dienst der Gemeinschaft, waren bereit, für andere Bürger, für die Stadt zu sterben.
Das war vor fast 700 Jahren. Und heute? Gibt es in unseren Tagen noch Helden, gibt es noch solche Helden? Sollte es überhaupt noch Helden geben? Oder haben sie ausgedient? Leben wir inzwischen, wie man gelegentlich hören kann, in einem „post-heroischen Zeitalter“? Zumindest der erste Anschein spricht dagegen. Es scheint noch nie so viele Helden gegeben zu haben wie heute. Sie sprießen wie Pilze aus dem Boden, auf Schritt und Tritt begegnet man ihnen. Medien oder Unternehmen küren reihenweise sogenannte „Helden des Alltags“. Ein Jugendlicher zum Beispiel, der sich trotz diverser Absagen unverdrossen um eine Lehrstelle bewirbt, hat gute Chancen, zum Alltagshelden ausgerufen zu werden; ein alleinerziehender, berufstätiger Vater ebenso. Und wer weiß, vielleicht werden demnächst auch Menschen, die sich wegen Steuerhinterziehung selbst anzeigen, zu Helden ernannt, was in der Folge natürlich erst recht jenen zum Heldenstatus verhelfen müsste, die ihre Steuern von vornherein korrekt entrichten – oder auch nur ihre Rechnungen fristgerecht bezahlen. So viele Helden! Was hat das zu bedeuten?
Manche Wissenschaftler sprechen schon von einer „Veralltäglichung“ oder „Demokratisierung“ des Heldentums. Doch sind das nicht fragwürdige Begriffe? Ist denn nicht der massenhaft auftretende Held ein Widerspruch in sich? Sind Helden denn nicht per definitionem seltene Erscheinungen, singuläre Gestalten? Verkörpern sie nicht das Besondere? Ragen sie nicht aus der Masse heraus? Anders gefragt: Müssen wir nicht davon ausgehen, dass sich Demokratie und Heldentum wechselseitig ausschließen, dass sich das egalitäre Demokratiekonzept und das elitäre Heldenkonzept nicht miteinander vereinbaren lassen? Vieles spricht dafür. Und doch glaube ich, dass auch Demokratien Helden vertragen, mehr noch: dass Demokratien sogar Helden brauchen. Wie lässt sich das begründen? Was sind überhaupt „Helden“? Beginnen wir mit einigen allgemeinen Beobachtungen.
Homer verwendete um 700 vor Christus den Begriff „Heros“ als ehrenvolle Bezeichnung für einen Kriegerfürsten. Der Kampf, der Krieg – sie blieben für viele Jahrhunderte das Feld, auf dem Helden sich auszeichnen konnten. Hier wurden sie geboren, hier erlebten sie ihre große Bewährungsprobe. Im 19. Jahrhundert und vollends im 20. hat sich der Krieg dann jedoch grundlegend verändert. Persönlicher Mut, Tapferkeit oder Körperkraft waren zwar auch im Ersten und im Zweiten Weltkrieg nicht obsolet. Den Ausschlag gaben nun allerdings andere Faktoren. Diese Kriege wurden nicht durch individuelle Kampfestugenden entschieden, sondern durch überlegene Technik und Wirtschaftskraft. Die bittere, erschütternde Wahrheit lautete: In Materialschlachten brauchte man Menschenmaterial, keine Helden. Und dennoch – oder gerade darum? – wurden nie zuvor so viele einfache Soldaten zu Helden stilisiert wie gerade in der Weltkriegsepoche, nie zuvor so viele Orden verliehen, nie zuvor den Hinterbliebenen so oft versichert, dass der Gefallene einen „Heldentod“ gestorben sei. Der Begriff des Helden wurde von den Machthabern missbraucht. Er wurde so offenkundig, so systematisch missbraucht, dass man nach 1945 – zumindest in Westdeutschland – von Helden zunächst einmal nichts mehr wissen wollte.
Dass Helden überall und in großer Zahl auftreten, ist also nicht erst ein Phänomen unserer Tage – und doch sind die Unterschiede zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewaltig. Die heute zu beobachtende Ausbreitung des Heldenbegriffs ist von gänzlich anderer Art. Sie findet unter friedlichen und zivilen Bedingungen statt. Heldentum ist in unserer Gesellschaft längst keine Angelegenheit mehr von Leben und Tod. Die Hürden, die man überspringen muss, um als Held zu gelten, sind vergleichsweise niedrig. Mit Blick auf die historische Entwicklung könnte man sagen: Der Heldenbegriff erodiert, er verliert an Substanz.
So ist oft schwer zu entscheiden, was im öffentlichen Sprachgebrauch einen Helden noch von einem Vorbild, einem Idol oder einem Star unterscheidet. Um es zum Helden zu bringen, genügt es in vielen Fällen schon, wenn jemand, wie man so sagt, einen „guten Job“ macht. Die herausragende Leistung ist zum Hauptkriterium des Heldentums geworden. Auch das ist nicht ganz neu: So wurde im verblichenen Kommunismus, wer die vorgegebenen Arbeitsnormen deutlich übertroffen hatte, zum „Helden der Arbeit“ befördert. Gerne spricht man auch von „Helden der Wissenschaft“. Das sind Gelehrte, die auf ihrem Fachgebiet Bahnbrechendes geleistet haben; den größten Teil ihres Lebens haben sie freilich – ganz unheroisch – am Schreibtisch, in der Bibliothek oder im Labor zugebracht. Auch bei den „Helden des Sports“ ist die Leistung das A und O. Ein Olympiasieger, ein Weltmeister, ein Champion, ob als Einzelner oder als Mannschaft – Platz eins qualifiziert zum Heldentum. Die „Helden von Bern“ waren nicht die ersten dieser Art und schon gar nicht die letzten. Wenn zudem der Erfolg, wie bei der deutschen Fußball-Nationalmannschaft 1954, völlig überraschend eintritt, ist die Bereitschaft des Publikums, Heldenkränze zu flechten, besonders groß. Bleibt hingegen ein schon sicher geglaubter Sieg aus, versagt also der potentielle Held, dann greifen Enttäuschung und manchmal sogar Häme Platz. Aus dem Heldenkranz wird eine Dornenkrone.
Oft ist schwer zu entscheiden, was im öffentlichen Sprachgebrauch einen Helden von einem Vorbild, einem Idol oder einem Star unterscheidet.
Selbstverständlich hat in der Geschichte des Heldentums die außergewöhnliche Leistung immer eine wichtige Rolle gespielt. Doch Leistung allein macht noch keinen Helden. Was also muss noch hinzutreten? Das war und ist umstritten. Und wahrscheinlich kann man diese Frage gar nicht verbindlich und ein für allemal beantworten. Eine der Kernthesen der neueren wissenschaftlichen Erforschung des Heldentums lautet denn auch: Helden sind „soziale Konstruktionen“. Mit anderen Worten, unser Verständnis von Heldentum unterliegt historischem Wandel. In der Heldengeschichte gibt es Brüche. Wer ein Held ist, was einen Helden ausmacht – das ist nicht auf ewig festgelegt, sondern unterscheidet sich beträchtlich: von Epoche zu Epoche, von Kulturkreis zu Kulturkreis, aber auch innerhalb ein und derselben Gesellschaft.
Daher ist es auch vielfach unmöglich, klassische Helden in die Gegenwart hinüberzuretten. Unser Abstand zu ihnen ist zu groß geworden, sie sind mit heutigen Heldenbildern nicht vereinbar. Nicht nur die Zwecke, die sie verfolgten, sind uns fern, auch die Mittel, die sie zuweilen einsetzten, lehnen wir ab. Herakles zum Beispiel hat geraubt, getötet, vergewaltigt. Natürlich wissen wir manches über ihn, über Hektor oder Theseus, über Achill oder Odysseus. Sie zählen zum klassischen Bildungsgut, doch sie und ihre Taten sind nicht handlungsleitend im Alltag des 21. Jahrhunderts, können es nicht sein.
Die großen, starken, kampfesmutigen und oft siegreichen Helden der Antike wurden nicht erst in unserer Zeit, sondern schon im Mittelalter von einem ganz anderen Typus abgelöst. Jetzt traten „ritterliche Helden“ oder christlich geprägte „Glaubenshelden“ auf den Plan, Asketen, Märtyrer, die große persönliche Risiken auf sich nahmen und Opfer brachten; nicht selten haben sie ihr Leben eingesetzt und verloren. Zudem standen hinter ihren Taten keine selbstsüchtigen Motive, keine Eigeninteressen, sondern übergeordnete Prinzipien oder Ideale. In solchen Figuren wurden die Übergänge zwischen dem Helden und dem Heiligen, auch die zwischen dem Maskulinen und dem Femininen, fließend, man denke an den heiligen Georg, die heilige Barbara oder die heilige Elisabeth.
Die Wandlungen des Heldenbegriffs haben sich auch in der Neuzeit fortgesetzt – und beschleunigt. In der jüngeren deutschen Vergangenheit konnten wir des Öfteren sehen, was veränderte politische Vorzeichen bewirkten: Da wurde aus dem zum „Helden der Lüfte“ stilisierten Jagdflieger ein „General des Teufels“, aus dem wegen Hoch- oder Landesverrats verfolgten politischen Gegner ein Held des Widerstands.
Die historischen Brüche in den Heldenbildern und in der Beurteilung von Helden machen es schwierig, Allgemeingültiges zu sagen. Doch unmöglich ist es nicht. Denn ungeachtet aller Zeitgebundenheit des Themas, ungeachtet aller Wandlungen und Zäsuren gibt es auch einige Kontinuitäten.
So hat man zum Beispiel in der Antike nicht zwischen mythischen und realen Heldenfiguren unterschieden. Das ist auch in späteren Epochen so geblieben, bis heute. Es sind keineswegs nur Kinder und Jugendliche, die, nach ihren Lieblingshelden befragt, stets fiktive neben reale Figuren setzen: also Pippi Langstrumpf oder Superman neben Sebastian Vettel oder Edward Snowden. Auch den Erwachsenen gerät da in einer von Medien geprägten Welt zuweilen etwas durcheinander: 1992 schlugen Duisburger Studenten vor, die örtliche Universität nach dem „Tatort“-Kommissar Horst Schimanski zu benennen (und nicht etwa nach dem Schauspieler Götz George).
Oder erinnern wir uns des eingangs erwähnten FAZ-Fragebogens. Diesen Fragenkatalog gibt es, in verschiedenen Varianten, schon lange; er geht ins 19. Jahrhundert zurück. Einige der seinerzeit ausgefüllten Bögen sind erfreulicherweise überliefert und gestatten einen interessanten Einblick in die Heldenbilder einer längst vergangenen Zeit. Auffällig ist: Viele der dort genannten Heldennamen sind uns auch heute noch geläufig; und es fällt uns nicht schwer zu erkennen, worin man vor 200 Jahren das Heroische von Menschen wie Coriolan oder Spartacus gesehen hat, von Jeanne d’Arc, Lady Jane Grey, Florence Nightingale oder Garibaldi.
Einer der überzeitlich gültigen Aspekte in der Geschichte des Heldentums scheint – zumindest auf den ersten Blick – gar nicht der Erwähnung wert zu sein. Ich meine den Umstand, dass Helden durchweg als positive Figuren wahrgenommen werden. Natürlich kann man sie vom Sockel stoßen. Doch solange sie auf dem Sockel stehen, gelten sie als Menschen, die vorbildlich, bewunderungswürdig, nachahmenswert gehandelt haben, zu denen wir aufblicken können, die uns als Leitfiguren gelten.
Aber versteht sich das nicht von selbst? Liegt es denn nicht auf der Hand, dass der Heldenbegriff positiv konnotiert ist? Muss er das nicht sogar sein? Nicht unbedingt. Der US-amerikanische Soziologe Sidney Hook hat in den 1940er Jahren ein Buch über Helden geschrieben, in dem er einen ganz spezifischen Heldenbegriff favorisiert. Helden sind für Hook solche Menschen, die die historische Entwicklung nachweislich nicht nur beeinflusst, sondern tiefgreifend gestaltet haben. Anders gesagt: Wenn diese Menschen nicht eingegriffen hätten, wäre die Geschichte grundlegend anders verlaufen. Was sein eigenes Jahrhundert, also das 20., angeht, sieht Hook insbesondere in dem russischen Revolutionär Lenin einen solchen geschichtsgestaltenden Menschen. Ohne Lenin, so seine These, hätte die bolschewistische Machtergreifung im Oktober 1917 nicht stattgefunden – und auch später hätte sie nicht mehr stattgefunden, denn eine reale historische Chance gab es nur zu dem Zeitpunkt, als Lenin die Macht an sich riss. Lenins Größe, schreibt Hook, bestand in seinem untrüglichen Gespür für den entscheidenden Moment verbunden mit seiner außergewöhnlichen Tatkraft. Das klingt nach einem uneingeschränkt positiven Urteil. Doch das Gegenteil ist der Fall. Hook ist davon überzeugt, dass Lenins politische Rolle verhängnisvoll gewesen ist, dass seine Revolution eine Kette von Folgeereignissen hervorgebracht hat, die in ihrer Gesamtheit das 20. Jahrhundert zum opferreichsten der Weltgeschichte gemacht haben. All dies hindert ihn indessen nicht, Lenins revolutionäres Genie zu würdigen und ihm den Heldenstatus zuzubilligen.
Hook betrachtet also historische Größe wertneutral, ohne Rücksicht darauf, ob sie zum Guten oder zum Bösen ausschlägt. So scheint es jedenfalls. Doch gegen Ende seines Buches kommt er auf den Helden in der Demokratie zu sprechen. Jetzt vollzieht er eine überraschende Kehrtwende. Seine Argumentation schlägt unvermittelt ins Normative um. Die Demokratie, schreibt Hook, müsse sich grundsätzlich vor „großen Menschen“ – also Helden – hüten. Diese würden immer demokratische Prinzipien gefährden, selbst wenn sie die besten Absichten hegten. Die Demokratie sei eine auf dem Prinzip der Gleichheit basierende Ordnung. Folglich müsse sie die Aufteilung der Gesellschaft in einige wenige Helden auf der einen Seite und die graue Masse der Durchschnittsbürger auf der anderen überwinden. Die Gesellschaft müsse so umgestaltet werden, dass sich die Voraussetzungen und Chancen für heldenhaftes Handeln und Verhalten generell verbesserten. Die Losung „Jedermann ein Held!“ müsse zur Richtschnur in der Demokratie werden.
Wie es scheint, hat unsere Gesellschaft diese Forderung inzwischen erfüllt. Doch um welchen Preis? Schon bei Sidney Hook stoßen wir auf jenes Dilemma, das den aktuellen Umgang mit dem Thema Helden bestimmt. Je mehr Menschen zu Helden werden oder gemacht werden, desto dürftiger fallen die Ansprüche ans Heldentum aus. So auch bei Hook: Hatte er in seinem Buch Heldentum durchweg mit historischer Größe gleichgesetzt und wertneutral verwendet, so führt er nun, da es um den Helden in der Demokratie geht, eine neue, zwar eindeutig positive, aber doch eher bescheidene Definition ein. Ein Held ist für Hook jetzt jeder Mensch, der – Zitat – „seine Arbeit ordentlich verrichtet und einen einzig dastehenden Beitrag zum Wohl der Allgemeinheit leistet“.
Nähme man diese Definition ernst, müsste man den meisten ehrenamtlich Engagierten sowie zahlreichen Trägern des Bundesverdienstordens den Heldenstatus zubilligen. Das kann sicher nicht das letzte Wort zum Thema „Helden in der Demokratie“ sein. Offenkundig führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass man Heldentum nicht demokratisieren kann. Der Preis wäre seine Trivialisierung und Banalisierung. Die Ansprüche müssten so weit herabgestuft werden, dass sie potentiell jeder erfüllen könnte. Wenn wir den Begriff und das Konzept des Helden retten und fruchtbar halten wollen, müssen wir also anders argumentieren. Wir müssen sagen: Heldentum ist kein egalitäres, sondern ein elitäres Konzept. Nur wenige sind zu heroischen Handlungen bestimmt und fähig. Die Frage ist also nicht, ob in einer Demokratie jeder zum Helden werden kann. Die Frage ist vielmehr, ob es Formen des Heldentums gibt, die zur Demokratie passen, die ihr zuträglich, die ihr förderlich sind. Wenn, wie wir gesehen haben, ganz unterschiedliche Heldentypen existieren und in der Geschichte des Heldentums zahlreiche Brüche aufgetreten sind, müssen wir uns folglich zwischen verschiedenen Möglichkeiten entscheiden. Wir müssen uns fragen, welcher Heldentypus gleichsam „demokratie-kompatibel“ ist. Welche Zwecke sollen Helden verfolgen dürfen, welche Mittel sollen sie einsetzen dürfen, um Helden der Demokratie sein zu können? Darüber kann und darf man in einer demokratischen Kultur streiten und sich verständigen – immer wieder und immer wieder neu.
Es wird nicht überraschen, wenn ich an dieser Stelle auf den Anfang zurückblende und an die Bürger von Calais erinnere; sie sind gleichsam die „Prototypen“ demokratie-kompatibler Helden. Es lassen sich aber viele weitere, ähnlich gelagerte Beispiele nennen: Man denke an den polnischen Kinderarzt Janusz Korczak, der – zusammen mit seiner Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska – die ihm anvertrauten Kinder aus seinem Waisenhaus im Warschauer Getto nicht allein ließ, als sie in die Gaskammern von Treblinka transportiert wurden. Er begleitete sie auf ihrem letzten Gang, starb mit ihnen. Daneben gibt es Helden, deren Taten weithin unbekannt geblieben sind. Gut drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im November 1948, rettete der Lokführer August Vochtel seinen mit 700 Menschen besetzten Zug, der auf der Moselstrecke, im Cochemer Tunnel, außer Kontrolle geraten war. Auf dem Führerstand brannte es, die Lok ließ sich nicht mehr bremsen. In einem schier übermenschlichen Einsatz verhinderte Vochtel die Katastrophe, zog sich dabei schwerste Verbrennungen zu und schwebte lange in Lebensgefahr. Weil in seinem Zug viele französische Militärpersonen saßen, prägte man in Paris eigens für ihn eine Tapferkeitsmedaille. Oder man erinnere sich an die vielen „stillen Helden“, etwa jene Ordensschwestern, die sich während des Zweiten Weltkriegs dem nationalsozialistischen Kranken- und Behindertenmord widersetzten und gefährdete Menschen, unter ihnen viele Kinder, vor dem Zugriff der Machthaber schützten und versteckten – und dabei das eigene Leben aufs Spiel setzten.
Versuchen wir also eine Definition! Vom Tod bedrohte Menschen retten, verfolgte Minderheiten schützen, solidarisch mit Schwachen sein, Widerstand gegen Unrecht leisten, unter schwierigen Bedingungen für die Wahrheit einstehen – wer solches selbstlos und unter vollem Einsatz der eigenen Existenz, falls nötig des eigenen Lebens, seiner körperlichen Unversehrtheit oder seiner Freiheit tut, dessen Haltung darf man als heroisch bezeichnen. Die Erinnerung an solche Menschen, ihre Würdigung durch die Nachwelt, ist konstitutiv für eine demokratische Kultur. Erst recht ist es nötig, Menschen dieses Schlages zu erkennen und zu achten, wenn sie unter uns leben.
Wie kann man den Heldenmut von der Zivilcourage oder vom bloß untadeligen Verhalten unterscheiden? Wie grenzt man den Helden vom Vorbild ab?
So also könnten die Umrisse eines Heldentums aussehen, das der Demokratie zuträglich ist. Aber meine Definition ist nicht so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Sie klammert zum Beispiel die Frage aus, welcher Mittel sich die Helden bedienen dürfen. Soll es ihnen erlaubt sein, in bestimmten Fällen Gewalt anzuwenden, etwa im Widerstand gegen ein verbrecherisches, aggressives Regime? Am anderen Ende des Spektrums stellt sich die Frage, wie hoch der persönliche Einsatz sein muss, um als heldenhaft gelten zu können. Wie also kann man den Heldenmut von der Zivilcourage oder vom bloß untadeligen Verhalten unterscheiden, oder allgemeiner: wie grenzt man den Helden vom Vorbild ab?
Erinnern wir uns beispielsweise an den US-amerikanischen Schwergewichtsboxer Muhammad Ali. Von sich selbst behauptete Ali stets, „der Größte“, „the greatest“ zu sein. Das bezog sich natürlich auf seine Leistungen im Boxring. Seine wahre Größe stellte Ali allerdings auf einem ganz anderen Feld unter Beweis. Mitte der 1960er Jahre verweigerte der Boxer den Wehrdienst und damit auch den Kriegsdienst in Vietnam. Die Folgen für ihn waren dramatisch: Fünf Jahre Gefängnis, eine hohe Geldstrafe, Aberkennung seiner Titel und der Boxlizenz, Einzug des Reisepasses. Auch wenn die Gefängnisstrafe ausgesetzt wurde: die drakonischen Maßnahmen bedrohten nicht nur Alis sportliche Karriere, sondern seine gesamte bürgerliche Existenz. Er hat die schwere Zeit überstanden, ist in den Ring zurückgekehrt und wieder Champion geworden. Politisch ist er längst rehabilitiert, man hat ihn mit Ehrungen überhäuft, und auch jene Kräfte, die einst seine Ächtung betrieben hatten, haben sich mit ihm ausgesöhnt. Es ist dieser Aspekt seiner Laufbahn, seines Lebens, der Muhammad Ali gegenüber anderen großen Sportlern heraushebt. Doch: Machen ihn seine außergewöhnliche Konsequenz und Zivilcourage auch schon zum Helden?
Ähnliches ließe sich am Bespiel bedeutender Wissenschaftler oder Politiker fragen. Der Physiker Andrej Sacharow etwa oder Nelson Mandela waren Menschen, denen Schlimmes angetan wurde und die allen Grund gehabt hätten, verbittert zu sein. Doch sie brachten nicht nur die Kraft auf, trotz gewaltiger Pressionen ihren Überzeugungen treu zu bleiben; es gelang ihnen zudem, ihre Erfahrungen konstruktiv zu verarbeiten. Niemand hätte überrascht sein dürfen, wenn Mandela und Sacharow nach jahrelanger Haft beziehungsweise Verbannung unversöhnlich aufgetreten wären, misstrauisch und militant. Sie taten das Gegenteil – und sie taten es nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke. Sie zeigten menschliche Größe und waren dadurch für viele andere Ermutigung und Stütze. Aber sind sie darum auch Helden im hier vorgetragenen Sinn? Reicht es nicht, sie als Vorbilder, Leitfiguren oder überragende Führungspersönlichkeiten zu würdigen?
Solche Probleme und Grauzonen können von Vorteil sein, wenn sie immer wieder die offene Diskussion darüber stimulieren, wo demokratieverträgliches Heldentum beginnt und wo es endet. Man kann da keine allgemeingültigen Antworten geben, sondern muss von Fall zu Fall entscheiden.
Manche der demokratie-kompatiblen Heldentaten können selbstverständlich auch in anderen Systemen gewürdigt werden; eine Tat wie die des Lokführers Vochtel ist gleichsam zeitlos und in ihrer positiven Beurteilung nicht an ein bestimmtes politisches oder kulturelles Umfeld gebunden. Zudem zeigen die bislang erwähnten Beispiele, dass Heldentaten nicht unbedingt unter demokratischen Verhältnissen vollbracht worden sein müssen, um dennoch in der Demokratie Beispiel gebend wirken zu können. Ohnedies stehen die Chancen, dass Demokratien Helden hervorbringen, nicht sonderlich gut. Das ist kein Nachteil der Demokratie, im Gegenteil. Denn es beweist, dass man in einer demokratischen Ordnung vieles bewegen und verändern kann, ohne Kopf und Kragen riskieren zu müssen. Gegen Ende von Bertolt Brechts Schauspiel „Leben des Galilei“ widerruft Galilei seine Lehre, was seinen enttäuschten Schüler Andrea Sarti zu der Bemerkung veranlasst: Unglücklich das Land, das keine Helden hat. Galilei antwortet ihm: Unglücklich das Land, das Helden nötig hat. Eine bittere Bemerkung – und zugleich eine Utopie. Denn in Galileis Antwort steckt die Vision eines Landes, das keine Helden mehr braucht. Wenn in Demokratien die Notwendigkeiten wie auch die Gelegenheiten, heroisch zu handeln, vergleichsweise dünn gesät sind, wäre das also ein gutes Zeichen; wir haben jenes Utopia zwar nicht erreicht, aber wir haben uns ihm immerhin genähert.
Die alleskönnenden Superhelden sind uns unendlich fern – und gerade darum suchen wir ihre Nähe. Die wirklichen Helden kommen uns bedrohlich nahe, sie sind unbequem – und darum schieben wir sie gerne weg.
Einige Sozialwissenschaftler behaupten, unsere Gesellschaft zeige eine verbreitete „Sehnsucht nach Helden“. Doch wir sollten uns nicht täuschen lassen. Nach unseren bisherigen Erörterungen wissen wir, dass es sich vor allem um eine Sehnsucht nach Figuren handelt – seien sie real oder fiktiv –, mit denen wir uns identifizieren können. Wir hoffen, dass von ihrem Glanz ein wenig auch auf uns selbst abfällt. „Wir sind Weltmeister“ – obwohl das mit vollem Recht doch nur die siegreiche Mannschaft sagen kann, tun es auch all jene, die ihr die Daumen gedrückt haben. Im Berner Wankdorfstadion standen 1954 elf Deutsche auf dem Feld, aber zig Millionen Deutsche hatten das sichere Gefühl: Wir haben gewonnen – wir sind wieder wer. Die vermeintlichen Sporthelden sind nicht die einzigen, die unsere Sehnsüchte befriedigen. Auch die fiktiven Helden taten das und tun es: Ob sie, wie einst, den Augiasstall ausmisten und der Hydra Köpfe abschlagen oder, wie heute, mit schier übermenschlichen Kräften und raffinierter Technik die Welt vor dem Bösen retten – von unserer konkreten Lebenswirklichkeit sind sie weit entfernt. Das ist einer der Gründe, warum sie so beliebt sind. Solche Taten übersteigen vollends unsere Kräfte und Möglichkeiten, weshalb sie nie die unbequeme Frage aufwerfen, ob wir Ähnliches tun würden oder getan hätten. Wie anders verhält es sich da doch mit den Bürgern von Calais oder dem Lokführer Vochtel. Sie fanden sich in Situationen gestellt, in die jeder von uns geraten könnte und die jeden vor eine schwierige Entscheidung stellen würden. Nochmals und zugespitzt formuliert: Die alleskönnenden Superhelden sind uns unendlich fern – und gerade darum suchen wir ihre Nähe. Die wirklichen Helden hingegen kommen uns bedrohlich nahe, sie sind unbequem – und darum schieben wir sie gerne weg.
In manchen Ohren mögen diese Überlegungen so klingen, als predige hier einer den heroischen Opfermut um seiner selbst Willen und spiele ihn obendrein gegen die vermeintliche bürgerliche Saturiertheit aus. Doch das wäre ein Missverständnis. Zunächst ist Heldentum, wie mehrfach betont, ohnehin nicht jedermanns Sache, sondern allenfalls die einer kleinen Minderheit. Sodann versteht es sich von selbst, dass man bei jedem Einsatz die Risiken gewissenhaft abwägen muss, sofern dazu Zeit bleibt. Selbstverständlich hat der Volksmund Recht, wenn er vor „Heldentum am falschen Platz“ warnt oder davor, „den Helden zu spielen“. Und schließlich sollte Heldentum keinesfalls primär unter dem Aspekt des Opfers gesehen werden.
Am Beispiel der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 hat der Publizist Karl Heinz Bohrer unlängst kritisiert, dass wir diese immer noch vor allem als Opfer erinnern – als Opfer des Nationalsozialismus. Das jedoch sei nicht das Wesentliche, das hebe sie nicht aus dem damaligen Deutschland heraus. Das Wesentliche sei vielmehr ihre Tat. Durch diese Tat hätten sie nicht lediglich Zivilcourage bewiesen, sondern, wie Bohrer es ausdrückt, eine „existentielle Zivilcourage“. Man könnte auch sagen: eine heroische Zivilcourage.
Es gibt aber noch einen anderen Grund, die Tat und nicht das Opfer in den Vordergrund zu stellen. Weil manche der Helden, die wir hier vorstellen, vielfach Unbehagen erzeugen, werden sie gerne abgewertet. Bleiben wir für einen Moment bei den eben erwähnten Widerstandskämpfern des 20. Juli. Auch wenn es historisch unzutreffend ist, wird immer wieder behauptet, sie hätten dem Regime viel zu lange gedient und das Attentat auf Hitler erst ausgeführt, als ohnedies jedermann klar gewesen sei, dass der Krieg verloren gehen würde. Ein altes und immer wieder beliebtes Spiel: Indem man die Täter diskreditiert, diskreditiert man letztlich auch ihre Tat. Jüngst hat man versucht, den Whistleblower Edward Snowden auf diese Weise unglaubwürdig zu machen. Wir sollten solche Spiele nicht zulassen. Eine Möglichkeit, sie zu unterbinden, besteht darin, ehrlich mit menschlichen Maßen zu rechnen, also zu sagen, dass es keine Helden gibt, die nur und ausschließlich und in jeder Situation Held sind. Auch hier also: Wir sollten weniger den Helden als seine Tat würdigen. Wenn wir von vornherein die heroische Tat ins Zentrum stellen, entgehen wir der Notwendigkeit, den Menschen, der die Tat vollbracht hat, zu idealisieren. Nur wenige Menschen sind Helden, wie wir wissen. Aber auch Helden sind immer nur Menschen. Hegel zitiert das französische Bonmot „Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener.“ Das liegt aber nicht daran, wie Hegel erläutert, dass der Held etwa kein Held wäre, sondern daran, dass der Kammerdiener ihn nicht in heroischen, sondern in allzu menschlichen Situationen erlebt. Es versteht sich von selbst, dass die Perspektive des Kammerdieners dem Helden nicht gerecht wird. Nehmen wir also unsere Helden vor den Kammerdienern in Schutz!
Beitrag für SWR 2, „Aula“, 23.11.2014. Nachdruck in: Universitas. 70 (März 2015 / Nr. 825), S. 4-19
Ihre Definition vom Heldentum ist eine opportunistische. Der Erhalt der Demokratie ist das Ziel. Dabei bekennen Sie sich zu urchristlichen Werten – „Vom Tod bedrohte Menschen retten, verfolgte Minderheiten schützen, solidarisch mit Schwachen sein, Widerstand gegen Unrecht leisten, unter schwierigen Bedingungen für die Wahrheit einstehen“ – doch finden diese bei Ihnen nur dadurch Rechtfertigung, weil sie eine Ihnen positiv erscheinende Staatsform – die Demokratie – stützen. Dagegen ist nichts einzuwenden, doch ich glaube nicht, dass diese Argumentationslinie für viele Menschen handlungsinitiierend wirkt.
Meine Meinung ist: Ideen, Überzeugungen, Ideale prägen Handlungen von Menschen. Die Idee „Demokratie“ ist nicht sinnstiftend genug, als dass viele ihre Handlungen danach ausrichten würden. „Glaube“ taugt dazu viel mehr. Oder auch Überzeugungen zu Naturschutz und Ökologie, früher auch linke Ideen, Feminismus, … Ich werde dieses Jahr 30 und stelle fest, dass diese Überzeugungen in meiner Generation in weiten Teilen fehlen. Handlungsinitiierend ist die Weiterentwicklung und Pflege des „Ichs“.
Nun, ich selbst bin gläubige Christin und der Ansicht, dass die weite Verbreitung christlicher Werte eine feste Basis für die Demokratie liefert. Das hängt auch daran, dass Menschen zu den in Ihrer Definition genannten Werten angehalten werden. Wenn sie glauben, dass diese Werte von einem Gott gestiftet und erwartet sind, hat dies natürlich größere Auswirkungen, als wenn man eine Staatsform bevorzugt.
Was ist also zu tun? Die Kirchen haben in den letzten Jahren ihren Missionsauftrag wiederentdeckt und auch Deutschland als Missionsland. Das stimmt mich hoffnungsvoll, auch im Hinblick auf unsere Demokratie!
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