GAS!!!

Eine Dramen-Trilogie von Georg Kaiser

Zwischen 1917 und 1920 legte der expressionistische Dramatiker Georg Kaiser drei thematisch zusammenhängende Theaterstücke vor: Die Koralle, Gas und Gas. Zweiter Teil. Kaisers Stücke sprengen in mehrfacher Hinsicht den Rahmen und gehen an die Substanz.

In jedem der Dramen tritt eine andere Menschengeneration auf den Plan. Die Hauptfigur in der Koralle ist der Milliardär, ein kapitalistischer Unternehmer; ihm folgen im ersten der beiden Gas-Stücke der Sohn des Milliardärs und im zweiten der Urenkel, der jetzt, als „Milliardärarbeiter“, eine soziale Synthese verkörpert. Wie die drei Hauptpersonen, so sind auch die übrigen Menschen, denen wir begegnen, keine Charaktere, mit denen man sich identifizieren, mit denen man hoffen und leiden könnte, sondern sie sind weitgehend anonymisierte, entindividualisierte Figuren, die auf ihre jeweiligen Funktionen im technischen und gesellschaftlichen Prozess reduziert werden. Sie sind Sprachrohre unterschiedlicher Denkpositionen und Geisteshaltungen.

In jedem der Stücke haben sich die sozialen und politischen Organisationsformen verändert: zunächst sind sie kapitalistisch, dann sozialistisch, schließlich herrscht eine technokratische Diktatur. Ein Fortschritt hin zum besseren Leben ist nicht zu erkennen. Lediglich die Technik in Gestalt der Gasproduktion schreitet fort – in des Wortes doppelter Bedeutung: Sie wird nicht nur komplexer, leistungsfähiger und potenziell zerstörerischer, sondern sie löst sich auch zunehmend von der Lebenswirklichkeit der Menschen ab. Ihre Distanz wird größer, ihre Eigendynamik selbstherrlicher. Sie erzeugt stetig wachsende materielle und geistige Abhängigkeiten. Den Handelnden ist es offenkundig unmöglich, ihr als autonome Persönlichkeiten gegenüber- oder gar entgegenzutreten.

Im ersten der Stücke, der Koralle, deutet Kaiser die Ursprünge der Technik anthropologisch. Demnach ist die Technik konstitutiv für das „Mängelwesen Mensch“. Sie schafft Sicherheit, Umweltstabilität, berechenbare Lebensvollzüge, sie ist ein unverzichtbares Mittel, um vernünftige menschliche Zwecke zu erreichen. Doch die kapitalistische Produktionsweise hat das ursprünglich sinnvolle technische Projekt in seinem Sinn verkehrt, sie hat die Dinge über das zuträgliche Maß hinausgetrieben. Dies war eine zur Entstehungszeit des Dramas fast konventionelle Sicht der Dinge, und sie scheint auch den einzig möglichen Ausweg aus der Misere vorzuzeichnen. Denn würde es gelingen, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu verändern, könnte man die Technik erneut in den Dienst des Menschen stellen.

Es ist diese Utopie, die Kaiser im zweiten Teil seiner Trilogie Wirklichkeit werden lässt. In seinem Drama Gas hat der altruistische Sohn des Milliardärs die Gasproduktion sozialisiert. Unter offenkundig bereits globalisierten Produktionsbedingungen wird in riesenhaften Anlagen das „Weltgas“ hergestellt. Doch die sozialistische Betriebsverfassung hat keine Humanisierung der Arbeitsverhältnisse bewirkt. Das Gegenteil ist der Fall: Weil die Arbeiter nunmehr an den Profiten der omnipotenten Produktion beteiligt sind, ist ihre Identifikation rückhaltloser als je zuvor. Die einst maßlose Ausbeutung ist zur noch maßloseren Selbstausbeutung mutiert, zur Arbeit um ihrer selbst willen.

Erst als bei einer Explosion in den Gaswerken unzählige Arbeiter ums Leben kommen, tritt eine Zäsur ein. Man sucht nach dem Schuldigen, und man glaubt, ihn im Ingenieur gefunden zu haben. Doch die von diesem entwickelte Formel für die Gasproduktion hält allen Überprüfungen stand. Oder besser: Die Formel stimmt – und sie stimmt nicht. Sie stimmt, weil nach dem Stand von Wissenschaft und Technik keine bessere Formel möglich ist. Sie stimmt nicht, weil diese nach menschlichem Ermessen bestmögliche Formel das Restrisiko einer Gasexplosion nicht ausschließen kann.

Der Sohn des Milliardärs ist der einzige der Akteure, der durch die Gaskatastrophe in eine Sinnkrise gestürzt wird. Er will die Arbeiter zur Umkehr bewegen, zurück zum einfachen, naturnahen Leben, ohne Gasproduktion und Arbeitsfron. Ingenieur, Militär und Regierung plädieren hingegen für den Wiederaufbau des Werks, für die Fortsetzung der Produktion „alten Systems“ – und die Arbeitermassen folgen ihnen. Sie wissen zwar, auf was sie sich einlassen, auf eine Produktion nämlich, die, wie es im Drama wörtlich heißt, „von Explosion zu Explosion“ fortschreiten wird. Doch das Bekannte, und sei es noch so erschreckend, erscheint den Betroffenen allemal akzeptabler als mit dem Sohn des Milliardärs in unvertraute Gefilde aufzubrechen. Für sie, so scheint es, besteht die eigentliche Katastrophe nicht in der verheerenden Explosion, sondern in dem durch die Explosion verursachten Stillstand der Produktion.

Im Fortsetzungsdrama Gas. Zweiter Teil hat die Technik ihr destruktives Potenzial voll entfaltet. Man produziert Gas für militärische Zwecke, für einen nicht enden wollenden Krieg, in dem sich anonymisierte „Blaufiguren“ und „Gelbfiguren“ bekämpfen. Als der „Großingenieur“ die erschöpften, in Lethargie und Defätismus erstarrten Arbeitermassen für seine neue, möglicherweise kriegsentscheidende Erfindung – das Giftgas – zu begeistern versucht, wiederholt sich die aus dem ersten Teil des Dramas bekannte Konstellation. Doch während in Gas I die Alternative zwischen einem „Zurück zur Natur“ und einem ungebrochenen Fortschrittsdenken zur Debatte stand, ist es in Gas II die Alternative zwischen dem Versprechen grenzenloser technischer Macht und dem bewussten, ethisch begründeten Machtverzicht.

Es ist der Milliardärarbeiter, der die Utopie des Machtverzichts verkörpert. Als er die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens erkennt, schlüpft er, wie man heute vermutlich sagen würde, in die Rolle eines Selbstmordattentäters. Er bricht aus der beschränkten Rationalität des Systems aus, wirft eine Giftgaskugel und richtet ein Inferno an. Die gegnerische Macht missdeutet diese Handlung als Angriff und reagiert mit der Vernichtung von Freund und Feind. Am Ende steht nicht eine weitere Katastrophe bekannter Art, sondern die Apokalypse.

(…)

Man kann sich den bohrenden Fragen, die Kaisers Dramen aufwerfen, (…) dadurch [entziehen], dass man sie zu irrealen Hirngespinsten erklärt, die mit der Wirklichkeit hoch technisierter Gesellschaften wenig zu tun haben.

Wer so argumentiert, kann etliche Trümpfe ins Feld führen. So dürfte schon die lapidare Feststellung kaum zu bestreiten sein, dass das alltägliche Leben gerade in den am stärksten technisierten Gesellschaften einen historisch einzigartigen Grad an Sicherheit erreicht hat. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist höher als je zuvor. Was an Gefährdungen des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit noch verblieben ist, lässt sich in der Regel den persönlichen, oft bedenkenlos und wider besseres Wissen eingegangenen Risiken zuschreiben: Nikotingenuss, übermäßiger Alkoholkonsum oder unvorsichtiges Verhalten im Straßenverkehr fordern weit mehr Opfer, als es die nur selten auftretenden technischen Katastrophen tun.

Nicht von ungefähr kommt denn auch keine Analyse der technischen Zivilisation ohne die Kategorie der Sicherheit aus. Der technische Fortschritt sichert uns vor den Launen der Natur und er hilft uns, den Frieden zu sichern, er sichert unseren Konsum und unsere Energieversorgung, er sichert unsere Mobilität und unsere Gesundheit. Selbst die sozialen Verwerfungen, die der Industrialisierungsprozess des 19. und frühen 20.Jahrhunderts mit sich brachte, gehören inzwischen – zumindest in den hoch entwickelten Ländern – längst der Vergangenheit an oder sind durch soziale Sicherungssysteme aufgefangen worden. Und auch wenn die normierten Verhaltensweisen, die eine technische Durchrationalisierung der Gesellschaft mit einer gewissen Zwangsläufigkeit hervorbringt, nicht nach jedermanns Geschmack sein mögen, so weiß doch, wer sich ihrer bedient, dass er mit ihnen „sichergeht“.

Doch auch eine weniger freundliche Lagebeurteilung hat keine Mühe, unterstützende Argumente beizubringen und eine düstere Rechnung aufzumachen. Schon ein Jahr nach dem Abschluss von Kaisers Gas-Trilogie forderte eine Explosion im Ludwigshafener Stammwerk der BASF 550 Todesopfer – und viele weitere Ereignisse dieser Art sollten folgen, bis hin zu Bhopal oder Seveso, bis hin zu zerbrochenen Öltankern, geborstenen Staudämmen, havarierten Kernkraftwerken oder explodierten Raumkapseln. Selbstverständlich könnte man in diesem Zusammenhang auch darauf verweisen, dass Kaiser seine Dramen noch unter dem unmittelbaren Eindruck eines verheerenden Krieges geschrieben hat, in dem erstmals in großem Stil Giftgas eingesetzt wurde, und dass, als er 1945 starb, gerade das ganze Ausmaß der in industrialisiertem Maßstab betriebenen Menschenvergasung offenbar geworden war und die Atombombenabwürfe über japanischen Großstädten ein neues Zeitalter der Destruktivkräfte einläuteten.

Wem also soll man glauben? Bringt der technische Fortschritt größere Sicherheit, oder führt er zu größerer Unsicherheit? Jede der beiden Perspektiven, so scheint es, hat ihre Berechtigung. Oder besser: Jede der beiden stimmt – und stimmt nicht. So führt denn ihre plakative Konfrontation nicht weiter, sondern zurück in fruchtlose, altvertraute Frontstellungen – technikoptimistisch die eine, technikpessimistisch die andere. Und keine der beiden vereinseitigten Sichtweisen wird dem eigenwilligen Anliegen der Kaiser‘schen Gas-Dramen gerecht.

Kaisers Stücke handeln nur vordergründig von der Gasproduktion. Diese steht vielmehr, wie vom Autor selbst bezeugt, stellvertretend für die moderne Technik in ihrer Gesamtheit. Die Unsichtbarkeit des Gases symbolisiert das Gefahrenpotenzial moderner Technik. Man assoziiert unwillkürlich die bedrohlichen „Wolken“, die sich nach Chemiekatastrophen über den betroffenen Ortschaften entfalten oder nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl über halb Europa verbreiteten. Je höher der Entwicklungsstand der Technik, desto größer auch das Gefahrenpotenzial – und desto abstrakter die Gefahr. Radioaktivität kann man nicht riechen oder schmecken, man kann sie nur messen. Weil moderner Technik ein hohes Gefahrenpotenzial innewohnt, setzen Vorgänge der Distanzierung ein.

Das Phänomen der Distanzierung lässt sich bereits an der konventionellen Maschine beobachten. Der Mensch bedient sich der Maschine nicht wie eines Werkzeugs, sondern er bedient sie. Er handelt nicht in Bezug auf die Sache, um die es geht, sondern in Bezug auf die Maschine, die zwischen ihn und seinen Endzweck tritt und die Arbeit vollständig vermittelt. Die Distanzierung prägt auch die Arbeitsprozesse in Kaisers Dramen. In den riesigen Anlagen der Gasproduktion erreicht sie eine neue Qualität: in Gestalt einer komplexen Kontrollapparatur, auf der die technischen Prozesse in scheinbar harmlose Striche und Farbsymbole übersetzt werden.

Selbst der Krieg, der im letzten Teil der Trilogie tobt, erinnert an manch hoch technisierte Kriege der Gegenwart. Menschen und Material werden aus sicherer Distanz zerstört, sozusagen per Knopfdruck, und auch das Ergebnis des Einsatzes registriert man aus der Ferne. Distanzierung und Abstraktion sind einerseits technische Notwendigkeiten, andererseits dienen sie der Verdrängung von Angst. Sie sind die Bedingung der Möglichkeit des routinierten Umgangs mit moderner Technik. Sie suggerieren Kontrolle, Sicherheit und Macht.

Die moderne Technik, sagte der Soziologe Heinrich Popitz, ist ein „Phänomen der Macht“. So sieht es auch Kaiser. Doch Macht bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur und nicht einmal in erster Linie, dass derjenige, der über die Technik verfügt, ein Machtmittel in Händen hält. Es bedeutet vielmehr, dass – metaphorisch gesprochen – die Technik selbst eine Macht ist, der sich niemand entziehen kann, auch diejenigen nicht, die sich in ihrem Besitz glauben. Mit dem Wachstum technischer Macht wächst zugleich die Sicherheit – in Fall des Gases die Sicherheit der Energieversorgung –, doch es wachsen, gleichsam im Schatten, auch die Unsicherheiten. Wachsende Macht geht mit wachsender Ohnmacht einher.

Die technische Katastrophe in Kaisers Dramen ist niemandem individuell zurechenbar. Es gibt es keine Schuldigen, auch niemanden, der „schuldlos schuldig“ geworden wäre. Die Stücke sind frei von jeglicher Tragik. Sie sind Denkspiele, die sich mit unerbittlicher Logik entfalten. Die Gasproduktion wird als technisches System präsentiert, die Menschen als Anhängsel oder funktionale Komponenten des Produktionsprozesses. Sie denken und handeln in der Logik des Systems. Wenn sie versagen, werden sie zu einem ebenso eminenten Risikofaktor wie ein defektes Ventil oder eine undichte Leitung.

Die Unterscheidung zwischen technischem und menschlichem Versagen wird zunehmend obsolet. Insofern kann man die technische Katastrophe als ein systemimmanentes Versagen begreifen, eine allgegenwärtige systemimmanente Möglichkeit, die man, als sie erstmals eintritt, schockiert konstatiert, doch in der Folge sehenden Auges in Kauf nimmt. Im Grunde ist die Katastrophe ein „normales“ Ereignis. Sie ist, wie der Publizist Volker Hummel schreibt, kein Restrisiko, sondern ein Normalrisiko, ein von vornherein einkalkulierter Kostenfaktor.

Sachzwänge und Denkzwänge tun gleichermaßen ihre Wirkung. Die einen sind von den anderen nicht zu trennen. Zum einen hat die Gasproduktion unleugbare materielle Abhängigkeiten und Erfordernisse technischer, ökonomischer und politischer Art hervorgebracht, zum anderen hat sie die bewusstseinsmäßige Verstrickung und Konditionierung des Menschen bewirkt. Beide Phänomene verstärken sich wechselseitig. Mit Ausnahme der anachronistisch wirkenden Hauptfigur sind sich nach der Katastrophe alle Beteiligten einig: Es muss weitergehen, weil es sonst nicht mehr weitergeht.

Subjekt und Objekt, Mensch und Technik stehen sich nicht länger in einem Verhältnis von Herr und Knecht oder von Zweck und Mittel gegenüber, sondern sind zu einer neuen Einheit verschmolzen. Die Technik erscheint als autonomes Gebilde, und zwar nicht deshalb, weil sie schon von jeher autonom gewesen wäre, sondern weil der Mensch seine Autonomie verloren oder verspielt hat. Der Mensch hat das technische System zwar erdacht und konstruiert und ist auf vielfältige Weise in die systemischen Zusammenhänge integriert, gleichwohl tritt ihm das System als fremde Macht gegenüber. Obwohl die Technik fraglos von dieser Welt ist, bildet sie doch eine Welt für sich. Die Gasproduktion gewinnt die Züge eines Naturprozesses, der in einen technischen Prozess umgewandelt wurde. Und wie der technische Prozess einem Naturprozess, so ähnelt die technische Katastrophe einer Naturkatastrophe.

Ein letzter Aspekt der Gas-Dramen sei erwähnt: Wie auch immer man die Vernichtungstat des Milliardärarbeiters am Ende deuten mag, durch sein Handeln entzieht er sich zweifellos der Rationalität des Systems. Seine Tat zeigt, dass dieses System nicht nur im Innern fragil, störanfällig, katastrophenträchtig ist, sondern auch von außen verwundbar. Handlungen dieser Art sind jederzeit möglich, man muss mit ihnen rechnen; und je machtvoller die technischen Systeme, desto zerstörerischer ist ihre Wirkung. Auch die Reaktion der gegnerischen Kriegspartei auf die Tat des Milliardärarbeiters ist symptomatisch: Sie beruht auf einem Irrtum, einer Fehlwahrnehmung. Immer dann, wenn Menschen sich in einer Krisensituation wähnen, wenn sie plötzlich mit dem Unerwarteten oder Unvorstellbaren konfrontiert werden, ist die Gefahr groß, dass sie nicht das tun, was die Situation erfordert, sondern durch fehlgeleitetes Handeln die Lage verschlimmern.

(Ulrich Teusch, Die Katastrophengesellschaft. Warum wir aus Schaden nicht klug werden. Zürich: Rotpunktverlag 2008, S. 187-196)

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