Das WDR 3-Literaturmagazin Gutenbergs Welt beschäftigte sich am 13. Juni 2020 mit dem Thema „Formen der Macht“. Zu der von Walter van Rossum moderierten Sendung steuerte ich einen Essay zum Thema „Macht und Ausnahmezustand“ bei – hier zum Nachhören und -lesen. Die gesamte Sendung als Podcast findet man hier.
***
Seine Regierung wolle „mehr Demokratie wagen“, versprach Bundeskanzler Willy Brandt 1969, vor nunmehr einem halben Jahrhundert. Das waren noch Zeiten! Deutschland befand sich im Aufbruch. Landauf, landab wurde diskutiert. Es gab Reformen, die diesen Namen verdienten. Mehr Mitbestimmung all überall. Dazu aufmüpfige, unberechenbare Medien. Und eine beachtliche Diskursbreite. Kurzum, man leistete sich Liberalität.
Oder sollte man besser sagen: Man konnte sich Liberalität leisten? Denn die sozialen und ökonomischen Verhältnisse ließen Großzügigkeit zu. Die Rahmenbedingungen waren stabil, also günstig. Vielen Menschen ging es gut, zumindest besser als zuvor. Und ihre größten Erfolge feiert die Demokratie bekanntlich bei schönem Wetter.
Diese vergleichsweise guten Zeiten, die – grob gesagt – vom Ende der 1960er bis zur Mitte der 1980er Jahre reichten, sind definitiv vorbei. Die Verhältnisse, die Rahmenbedingungen haben sich grundlegend verändert. Das Wetter ist umgeschlagen. Die einst so prosperierenden westlichen Demokratien befinden sich seit Jahren im Krisenmodus. Immer öfter werden sie mit katastrophischen Ereignissen und Entwicklungen konfrontiert. Tief in der Gesellschaft gärt es. Vieles deutet auf sozialen Zerfall, auf Desintegration, auf Polarisierung, auch auf wachsende Gewaltbereitschaft.
Wann hat dieser Prozess eingesetzt? Schon mit Ende des Kalten Krieges? Nach 9/11? Mit dem Finanzcrash 2008? Es ist schwer zu sagen. Sicher ist: Wir steuern nicht länger auf mehr Demokratie, mehr Liberalität zu, sondern auf weniger, auf deutlich weniger. Seit Wochen sind in Deutschland und in vielen anderen Staaten Grundrechte suspendiert – Ausnahmezustände ohne zeitliche Befristung. Die Begründungen für die Aufrechterhaltung der Restriktionen werden von Tag zu Tag fadenscheiniger. Wenn immer wieder gesagt wird, die Welt nach Corona werde nicht mehr so sein wie die Welt vor Corona, dann klingt das in vielen Ohren nicht wie eine simple Prognose – sondern wie eine düstere Drohung. Steht zu befürchten, dass die Ausnahme zur neuen Normalität werden wird? Und wer könnte ein Interesse daran haben?
Große Krisen schaffen grundsätzlich offene (oder offenere) Situationen. Die spannende Frage lautet stets: Werden die etablierten Mächte ihre Macht und Deutungshoheit in und nach der Krise konservieren, vielleicht sogar verstärken? Oder werden neue Kräfte die Gunst der Stunde nutzen und gesellschaftliche Veränderungen durchsetzen? In einer dynamischen Krisensituation lässt sich das nur schwer abschätzen.
Sicher ist jedoch: Wer über große Macht verfügt, sei sie politisch oder ökonomisch, militärisch oder medial, wird diese in aller Regel nicht freiwillig abgeben oder mit anderen teilen. Ganz im Gegenteil, er wird alles versuchen, sie zu sichern und zu steigern. Daher lassen Machteliten eine Krise selten ungenutzt verstreichen. Insbesondere der Staatsmacht gilt sie als Chance, als Steilvorlage.
Zwei Herrschaftstechniken erfreuen sich in diesem Zusammenhang besonderer Beliebtheit und werden oft in Kombination eingesetzt: Zum einen wird versucht, einen möglichst breiten Konsens in der Bevölkerung herzustellen, nicht zuletzt durch die Erzeugung oder Instrumentalisierung von Angst und Schrecken.
Zum anderen legt man dort, wo die Konsensbeschaffung auf Widerspruch oder gar Widerstand stößt, eine härtere Gangart ein. Man verfährt nach dem Grundsatz „teile und herrsche“. Die Gesellschaft wird bewusst gespalten. Um zu verhindern, dass oppositionelle Strömungen – in einer Demokratie doch eigentlich eine pure Selbstverständlichkeit – bis in die „Mitte der Gesellschaft“ vordringen, werden sie offensiv und aggressiv ausgegrenzt: als Leugner, Psychopathen, Extremisten, Verschwörungstheoretiker, zuweilen auch als Pack, Mob oder Mischpoke.
Zugegeben: Krisen und Katastrophen sind für die Staatsmacht nicht ungefährlich. Sie können sie in Turbulenzen stürzen, ihre Schwächen bloßlegen, ihre Repräsentanten fahrlässig oder unfähig erscheinen lassen. In solchen Fällen ist der Ausnahmezustand zunächst einmal nicht die Stunde des Staates, sondern des Staatsversagens.
Doch die Regel ist das nicht. Üblicherweise schlägt die Staatsmacht aus Krisen und Katastrophen politisches Kapital. Ja, sie versteht es sogar, mit möglichen Krisen und Katastrophen Politik zu machen: indem sie die Angst vor ihnen schürt, indem sie so tut, als stünden sie unmittelbar bevor, als seien sie bereits eingetreten oder fänden permanent statt. Genau dies geschieht seit einiger Zeit (und nach wie vor) angesichts der terroristischen Bedrohung. Und die dort gewonnenen Erfahrungen werden auf andere Felder übertragen, aktuell auf das der Seuchenbekämpfung und Volksgesundheit. Selbst vom „Bioterrorismus“ ist schon die Rede.
In lang anhaltenden Krisenperioden droht der Ausnahmezustand zu einem Dauer- und Normalzustand zu werden. Und zu einem schwer fassbaren Schwebezustand. Dieser wiederum ist für die Staatsmacht ein Idealzustand. Sie deklariert es zu ihrer Pflicht und Verantwortung, ein ganzes Volk fürsorglich zu belagern. Sie verwandelt die Gesellschaft in einen Hochsicherheitstrakt, funktioniert sie in ein kollektives Frühwarnsystem um. Ihre Sicherheitsexperten entdecken ständig neue Fenster der Verwundbarkeit und machen sich daran, sie zu schließen. Alle paar Tage fällt ihnen ein neuer Grund ein, warum sie die Schraube noch fester anziehen müssen. All das, sagen sie, geschehe ausschließlich zum Wohle der Bürger. Niemand müsse befürchten, dass es hier womöglich nicht mit rechtsstaatlichen Dingen zugehe. Man könne Vertrauen haben.
Tatsächlich? Vielleicht muss man daran erinnern: Demokratie hat nichts mit Vertrauen zu tun, sondern mit Kontrolle. Selbstbewusste Demokraten schauen und schlagen ihren jeweiligen Führungskräften auf die Finger. Und sie hüten sich, ihre individuelle und kollektive Freiheit gegen das Linsengericht einer trügerischen Sicherheit einzutauschen. Sie verteidigen – mit Hannah Arendt – ihr Recht, Rechte zu haben.
Konsensfabrikation und Dissenspolitik, siehe auch https://aworkinglibrary.com/writing/fabricating-social-order
LikeLike
Vor ziemlich genau 15 Jahren hatte eine bekannte deutsche Politikerin ihre unglaublichen hellseherischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt: Es war auf einem Parteitag ihrer Partei, als sie sinngemäß sagte: Wir haben keinen ewigen Anspruch auf Demokratie und soziale Marktwirtschaft.
Nun gut, das mit der sozialen Marktwirtschaft hatte sich ja eh schon spätestens Anfang der 90er Jahre erledigt, als die ersten Tafeln enstanden – noch unter Kohl. Als ein weiteres Ende kann man auch die Einführung der Hartz-Gesetze nehmen, als dann Menschen 40 Stunden die Woche malochten und trotzdem noch zum Sozialamt für die Ernährung ihrer Familie mussten. Und Demokratie? Haben wir Demokratie, wenn wir alle vier Jahre auf einem Zettel ein Kreuzchen machen dürfen und in der Zwischenzeit werden Banken mit hunderten Milliarden gerettet, weil sie „systemrelevant“ oder auch alternativlos sind, marode Schulen oder Universitäten aber nicht, überlastete Pfleger und Krankenschwestern auch nicht, oder es werden europäische Staaten trotz eines multinationalen Gebildes namens EU gegen die Wand gefahren?
Mitte der 80er Jahre gab es noch keine Tafeln, aber es gab die Vermögenssteuer und überall in Europa wurde an den Grenzen kontrolliert bzw. es standen dort Zöllner bzw. Grenzbeamte und kontrollierten die Pkws, Lkws, Fahrradfahrer und Fußgänger.
Bis vor kurzem war es sogar noch schlimmer als damals: Nur aus bestimmten Gründen durfte man in ein Nachbarland reisen, meistens wegen einer Arbeitsstelle. Verwandtenbesuche oder einfach nur touristische Fahrten galten als zu gefährlich, außer der Flug mit dem Flugzeug natürlich. Der war wieder systemrelevant. Den Flugpassagieren hat man ihr persönliches Ansteckungsrisiko selbst anheimgestellt.
War der Boykott gegen die Firma Shell, damals Mitte der 90er Jahre, u.a. organisiert durch die NGO Greenpeace, wegen der geplanten Versenkung der Öltankplattform „Brent Spar“ nicht auch eine Art Demokratie, genauer eine Volksbewegung, sogar eine europäische? Und sie hatte wirklich Erfolg! Ganz ohne Wahlzettel, Urnen und Hochrechnungen!
LikeLike