Wenn der Iwan kommt…

Hannes Hofbauers Buch über das „Feindbild Russland“

Als kleiner Steppke spielte ich gerne Mäuschen, wenn ein paar ältere Männer aus unserem kleinen Eifeldorf die Köpfe zusammensteckten, um die großen politischen Fragen der Zeit zu verhandeln. Das war in den 1960er Jahren, im Kalten Krieg. Die weltpolitischen Zeichen standen zwar schon ein wenig auf Entspannung, aber das hatten besagte Männer, allesamt Weltkriegsteilnehmer, noch nicht mitbekommen. Und so politisierten sie munter drauf los. „Politisierende Eckensteher“ nannte der Dichter Adolf Glaßbrenner solche Leute.

Meist ging es in ihren Gesprächen um einen gewissen Iwan. Und immer darum, was der Iwan wohl als Nächstes tun – oder nicht tun – werde. Richtig spannend wurde es für mich, wenn die Frage aller Fragen aufs Tapet gebracht wurde: „Was tun, wenn der Iwan kommt?“

Ja, wenn der Iwan kommt… Was dann? Die einhellige Meinung war: Dann können wir einpacken. Dann geht alles den Bach runter.

Ich wusste damals nicht, wer dieser Iwan ist, und wunderte mich, dass gestandene, kriegserfahrene Männer vor einem einzelnen Menschen eine solche Heidenangst hatten. Eines Tages fragte ich meinen Vater, was es denn mit diesem Iwan auf sich habe. Wenn die Leute vom Iwan reden, erklärte er mir, dann meinen sie „den Russen“ oder „die Russen“.

Die Russen trieben auch einen anderen Dorfbewohner um. Er war noch etwas älter als die politisierenden Eckensteher. Man sah ihn oft, wie er behäbig, auf einen Stock gestützt, die Straße rauf und wieder runter spazierte. Wir, die Straßenjungs, machten gerne unsere Späße mit ihm. Wenn wir gerade nichts Besseres zu tun hatten, hänselten wir ihn. Er ließ sich das eine Zeitlang gutmütig gefallen, aber irgendwann hatte er genug und wurde böse.

Er verscheuchte uns, indem er sich langsam umdrehte, den Stock hob und uns beschimpfte. Er sagte aber nicht etwa „Ihr Lausbuben!“, „Ihr Herumtreiber!“ oder „Ihr Halunken!“. Nein, er sagte „Ihr Russen!“. Und er sagte es auf eine ganz bestimmte, ihm eigene Weise, die sich phonetisch nur mit Mühe wiedergeben lässt – etwa so: „IIIIHR RUSSSSSN!“ Er zischte dieses „IIIIHR RUSSSSSN!“ förmlich heraus, als würde er ausspucken. Ein noch stärkeres Schimpfwort als „Ihr Russen“ stand im nicht zu Gebote. Wenn es ihm entfuhr, wussten wir: Jetzt ist das Maß voll – höchste Zeit, Leine zu ziehen.

Man kann über solche Geschichten milde lächeln. Weniger lustig ist eine Episode, die mir der langjährige Sowjetunion- und Russland-Korrespondent Johannes Grotzky erzählte. Sie trug sich in seiner Schulzeit zu. Einer seiner Lehrer, auch er Kriegsteilnehmer, erzählte während des Unterrichts von der Panzerschlacht bei Orjol, Kursker Bogen (der Lehrer sagte immer „Orel“). Wörtlich: „Dann haben wir eine Mündungsbremse auf das Panzerrohr geschraubt und dem Russen eine vor die Fresse geballert.“ Die ganze Klasse grölte. Johannes Grotzky meldete sich und fragte: „Heißt das, für Sie haben Russen eine Fresse?“ Die Folge war ein veritabler Tobsuchtsanfall des Lehrers: „Du wirst die Russen auch noch kennenlernen! Warte nur, bis die Dich in die Finger kriegen!…“

„Der Iwan“ ist bekanntlich nicht gekommen. Oder genauer: Er ist uns zwar nach dem Zweiten Weltkrieg bedrohlich nahegerückt, aber mit dem Zusammenbruch des Kommunismus hat er sich wieder zurückgezogen, nicht nur aus dem Osten Deutschlands, nicht nur hinter die ominösen „Grenzen von 1937“, sondern noch ein Stück weiter. Offenbar hatte der Iwan genug mit sich selbst zu tun und wollte seine Ruhe haben. Die haben wir ihm aber nicht gelassen. Wir sind ihm behände nachgerückt, haben das euphemistisch „Osterweiterung“ genannt, stellen jetzt empört fest, dass der Iwan schon wieder an unserer Grenze steht – und rufen „Haltet den Dieb!“.

Wenn das alles nicht so gefährlich wäre, könnte man darüber lachen. Das ist schon eine merkwürdige Art der „Geopolitik“. Aber sie blickt, schlimm genug, auf eine jahrhundertelange Tradition zurück. In seinem neuen Buch Feindbild Russland: Geschichte einer Dämonisierung lässt der Wiener Historiker Hannes Hofbauer sie kenntnisreich, präzise und scharfzüngig Revue passieren.

Klischees, Stereotypen, Feindbilder, Dämonisierungen – sie zeichnen sich in der Regel durch eine gewisse Holzschnittartigkeit aus. Ihr intellektuelles Niveau ist mehr als bescheiden. Gegen Ende seines Buches nimmt sich Hofbauer das vor, was gegenwärtig bei uns als „Russland-Journalismus“ durchgeht. Insbesondere rekapituliert er einschlägige Spiegel-Titelbilder von 2007 bis heute. Auch wenn man konzedieren mag, dass solche Titelbilder ein wenig zuspitzen dürfen, sollte man doch annehmen, dass sie gewisse Grenzen einhalten und sich nicht geradewegs auf das Niveau von CDU-Wahlplakaten der 1950er Jahre begeben. Das tun sie aber. Machwerke, die zum Fremdschämen einladen. Und die Tatsache, dass Qualitäts- und Leitmedien in Großbritannien oder den USA oft zeitgleich in dieselbe Kerbe schlagen, macht die Sache keineswegs besser.

Erfreulich ist bei alledem eigentlich nur, dass solche Schüsse immer öfter nach hinten losgehen. Viele Zeitgenossen haben offenbar aus einer überaus leidvollen Geschichte gelernt und lassen sich nur noch ungern einen anti-russischen Propaganda-Bären aufbinden. Das führt aber mitunter dazu, dass sie sich von berufener wie unberufener Seite Maßregelungen gefallen lassen müssen.

Der Publizist und Russland-Experte Gerd Koenen zum Beispiel hat sich unlängst mit dem Begriff „Russland-Versteher“  oder – im Zeitalter der Personalisierung – „Putin-Versteher“ beschäftigt. Er spricht abfällig von der „Gemeinde der Russland Versteher“ und fügt spöttisch  hinzu: „wie sie unsinnigerweise genannt werden und sich so stolz wie grundfalsch gern selbst bezeichnen“. Das ist etwas verklausuliert – vereinfacht lautet Koenens Botschaft: Russland-Versteher sind nur deshalb Russland-Versteher, weil sie von Russland nichts verstehen. Oder noch einfacher: Russland-Versteher haben keine Ahnung.

Solche Aussagen sind nicht nur arrogant, sondern auch sachlich falsch. Es gibt im Westen hoch angesehene Historiker und Sozialwissenschaftler wie auch Russland-Beobachter in den Medien, die die aktuelle politische, wirtschaftliche und soziale Lage im größten Flächenstaat der Erde deutlich anders wahrnehmen, als Koenen das tut. Aber sie kommen so gut wie nie zu Wort. Und wenn doch, werden sie unterbrochen, bevor sie einen Gedanken zu Ende formuliert haben. Hat man im deutschen Fernsehen jemals ein Interview gesehen mit Stephen Cohen, John Mearsheimer, James Carden, Richard Sakwa? Oder Hannes Hofbauer?

Das ist vor allem deshalb bedauerlich, weil diejenigen, die der dominanten offiziellen und offiziösen Russophobie nicht zu folgen bereit sind, allzu oft reflexartig einer extremen Gegenposition verfallen und stur all das verteidigen, was in Russland geschieht oder aus Russland kommt. Auch dazu besteht kein Grund. Probleme gibt es in Russland genug.

Historisch ist es einen erkennbar anderen Weg gegangen als der Westen: keine Reformation, kaum Aufklärung, kaum selbstbewusstes Handwerkertum, um nur einiges zu nennen. Nach dem Ende des Zarismus folgten sieben Jahrzehnte bolschewistischer Diktatur mit den Exzessen der Stalin-Zeit, unter denen niemand mehr gelitten hat als die Menschen in der Sowjetunion. Dann der Jelzin-Wahnsinn. Seither mehr oder weniger erfolgreiche Versuche einer Stabilisierung und Konsolidierung. Man kann trefflich darüber streiten, ob das russische Glas halb voll oder halb leer ist. Aber warum ist es so schwer, ein sachlich fundiertes, differenziertes Bild zu entwickeln?

Weil offenkundig handfeste Interessen im Spiel sind. Johannes Grotzky hat das auf eine einfache Formel gebracht – sinngemäß: Wenn die Russen tun, was wir wollen, ist alles in Ordnung; wenn sie etwas anderes tun, gibt’s Ärger. Das ist letztlich auch die Quintessenz von Hannes Hofbauers Geschichte der westlichen Russland-Bilder: Meist wurden Russland und die Russen vom Westen dämonisiert, nur selten und eher kurzzeitig wurde die Dämonisierung durchbrochen und durch ein freundliches Bild aufgehellt. Ausschlaggebend für beides waren die jeweiligen geopolitischen Konstellationen und Interessenlagen – so auch heute:

„Die überwiegend feindselige Haltung gegenüber Russland im Westen ist geopolitisch begründet. In Washington und den mit den USA verbündeten Staaten tauchen zunehmend Ängste vor einem Hegemonieverlust auf. Dieser hat zwar mit der Politik des Kreml nur wenig bis gar nichts zu tun, das alte Feindbild Russland erspart allerdings manchen westlichen Strategen eine Beschäftigung mit tiefer liegenden Ursachen des eigenen zunehmenden Bedeutungsverlustes. Und antirussisch eingestellte Eliten wissen diese Vermischung zu nutzen.“

Die aktuelle innere Verfassung westlicher Demokratien – von ihrem Gebaren in internationalen Konflikten ganz abgesehen – berechtigt sie nicht, Russland irgendwelche Lehrstunden zu erteilen. Genau diese Selbstgerechtigkeit, dieses Messen mit zweierlei Maß, ist aber an der Tagesordnung. Hofbauer illustriert das an zahllosen Beispielen. Eines der amüsantesten bezieht sich auf die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi. Die wurden von Obama, Merkel und Co. boykottiert, weil sie sich über ein russisches Gesetz erregten, das die Werbung für Homosexualität im Beisein Minderjähriger (nicht die Homosexualität als solche) unter Strafe stellt.

„Drei Winterolympiaden zuvor, im US-amerikanischen Salt Lake City, waren die Athleten aus der ganzen Welt noch mit Piktogrammen in ihren Zimmern darauf hingewiesen worden, welche Sexualpraktiken im Staate Utah verboten sind und mit Strafverfahren geahndet werden: Neben der streng verbotenen Homosexualität sah man auch durchgestrichene Symbolmännchen und –weibchen, die Anal- und Oralverkehr miteinander hatten, denn diese Praktiken waren 2002 in Utah auch für Heterosexuelle strafbar. Soweit dem Autor in Erinnerung ist, sahen die russischen und andere Delegierte damals über solche Menschenrechtsverletzungen hinweg und nahmen dennoch an den Winterspielen in Salt Lake City teil. Nicht einmal bundesdeutsche Politiker aus den obersten Reihen stießen sich am Homosexuellenverbot und an der Strafwürdigkeit des Oralverkehrs in den USA. Mit so viel Entgegenkommen konnte Russland zwölf Jahre später nicht rechnen. Zwar durften in Sotschi sämtliche bekannten Sexualpraktiken ausgeübt werden, Männchen und Weibchen mit- und gegeneinander verkehren, aber über das Verbot der Werbung für Homosexualität erregten sich Obama, Merkel und Hollande dermaßen, dass sie die Spiele in Sotschi boykottierten.“

Derweil wirft die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland ihre Schatten voraus. Wenn sich an der geopolitischen Konstellation bis dahin nichts Grundlegendes ändert, haben wir einiges zu erwarten. Vielleicht beglückt uns der Spiegel ja dann wieder mit einem seiner unvergleichlichen Titelbilder – und der Schlagzeile: Wenn der Iwan kommt…

Hannes Hofbauer: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung. Promedia Verlag, 303 S., € 19,90

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